Bewegungsapparat & Sport

Klettern hilft

Weil Klettern weit mehr ist als Kraxeln, wird es jetzt auch zu therapeutischen Zwecken eingesetzt. Lesen Sie, wie Körper, Geist und Seele gestärkt werden, wenn man regelmäßig die Wand hochgeht.

Von Mag. Sabine Stehrer

Mehr als drei Meter hoch und sechs Meter breit ist sie, 130 Haltegriffe in Blau, Gelb, Grün, Rot und Violett hat sie, die Kletterwand im Kur- und Rehabilitationszentrum Dr. Nuhr. Vor ihr steht Emma W., 66 Jahre alt. Seit sechs Wochen kommt sie zweimal in der Woche für eine halbe Stunde aus Wien hierher nach Senftenberg in Niederösterreich, um zu klettern. Turnhose und Turnschuhe hat sie schon an, und sie hängt bereits am Sicherungsgurt. „Langsam merke ich etwas“, sagt sie und erklärt, was sie meint: „Mir kommt vor, dass mir das Stiegensteigen schon leichter fällt. Aber, Entschuldigung, jetzt muss ich rauf.“ Und schon greift Frau W. mit der rechten Hand in den blauen Griff in Schulterhöhe, mit der linken in den gelben etwas weiter oben, dann steigt sie mit den Füßen nach, greift wieder mit der Rechten nach oben, sucht mit der Linken Halt – und alsbald hängt sie schon etwa drei Meter weiter rechts und etwa 20 Zentimeter über dem Boden in der Wand. Frau W. hat Osteoporose, eine Erkrankung, bei der die Knochen schwinden und immer brüchiger werden. Parallel zur Einnahme von Medikamenten, die die Knochen stärken, riet ihr Hausarzt ihr zum therapeutischen Klettern.

Gute Erfahrungen bei Osteoporose

„Für Patientinnen und Patienten mit Osteoporose eignet sich das therapeutische Klettern erfahrungsgemäß besonders gut“, sagt Univ. Prof. Dr. Martin Nuhr, Facharzt für Physikalische Medizin und Allgemeine Rehabilitation sowie Allgemeinmediziner vom Kur- und Rehabilitationszentrum Dr. Nuhr. „Beim therapeutischen Klettern“, erklärt Nuhr, „werden einerseits die Muskeln des gesamten Körpers gekräftigt, und kräftigere Muskeln stützen die Knochen. Andererseits werden durch das Klettern die Beweglichkeit und Koordinationsfähigkeit trainiert, und wer beweglich ist und eine gute Koordinationsfähigkeit hat, stürzt nicht so leicht.“ So werde die Gefahr, sich die Knochen zu brechen, die bei Osteoporose besonders groß ist, gleich mehrfach gemindert.
Frau W. klettert inzwischen nach links oben. Sie strengt sich nun sichtbar an. Würde sie abrutschen, würde sie vom Sicherungsgurt aufgefangen werden bzw. vom Therapeuten, der an der Wand steht, das sichernde Seil hält und Frau W. hin und wieder hilfreiche Anweisungen gibt wie: „Jetzt den linken Fuß auf Gelb.“
Zu den Anforderungen beim Klettern gehört auch, sich die Route zu merken. So trainiert man an der Wand auch die Konzentrationsfähigkeit. Und ist man am Ziel angelangt, so kann man sich über ein Erfolgserlebnis freuen, was das Selbstvertrauen stärkt. So bringt das Klettern mehr Kraft für Körper, Geist und Seele gleichermaßen.

Von Gelenksproblemen bis Schlaganfall

Im Kur- und Rehabilitationszentrum Dr. Nuhr, wo Patientinnen und Patienten seit 2009 zu Therapiezwecken die Wand hochgehen, steht allerdings die Anwendung zur Beseitigung körperlicher, genauer: orthopädischer, Probleme im Vordergrund. Viele Ältere kommen auch, um den altersbedingten, schmerzhaften Verschleißerscheinungen an den Gelenken durch einen Muskelaufbau im Bereich der betroffenen Gelenke etwas entgegenzusetzen. Oder sie hatten einen Schlaganfall und klettern, um Lähmungserscheinungen zu bekämpfen. Das Klettern hilft zudem gegen Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen, wie sie oft bei Menschen auftreten, die bei einem Unfall eine Hirnverletzung davongetragen haben. Oder gegen diverse Probleme nach Schulter-, Hüft-, Knie- und Sprunggelenksverletzungen. Das Hauptanwendungsgebiet bei jüngeren Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern ist die Beseitigung von Fehlhaltungen, die auf Wirbelsäulenverkrümmungen, Skoliosen, zurückgehen. Ob das Klettern wirklich die geeignete Therapie ist, muss freilich im Einzelnfall nach einer eingehenden Untersuchung entschieden werden.

Erfolge schon nach kurzer Zeit

„Das Besondere an dieser Therapie ist, dass auch kleinste Muskelgruppen etwa im Bereich der Lendenwirbelsäule, der Handgelenke oder der Knie ganz gezielt und in relativ kurzer Zeit gekräftigt werden können“, fasst Nuhr zusammen. Darüber hinaus werden durch die Streckungen das Bindegewebe, die Gelenke und die Gelenkskapseln stimuliert, was ebenfalls der Kräftigung bzw. Festigung dient. Erste Erfolge sind, so Nuhr weiter, schon nach sechs bis acht Wochen spürbar und weiten sich im Lauf der Therapie aus. Die Voraussetzung dafür, dass diese Erfolge nach dem Ende der Therapie anhalten, ist aber, „dass weiter trainiert wird“, sagt Nuhr. Da der Körper durch das Klettern bereits dort gekräftigt ist, wo er Kräftigung gebraucht hat, muss man nicht unbedingt beim Klettern bleiben – was manche Patienten aber machen, weil ihnen der neue Sport so viel Spaß bereitet. Nuhr: „Man kann die Muskeln dann auch mit einem Training mit Gewichten oder mit Gymnastik weiter aufbauen oder erhalten.“

Von Lernschwäche bis Angststörung

Für MMag. Alexis Konstantin Zajetz steht weniger der körperliche Nutzen des Kletterns im Vordergrund als vielmehr der gesundheitliche Vorteil für Geist und Seele. Der Psychotherapeut und Sportwissenschafter, der auch Physio-, Ergo- und Psychotherapeuten in ganz Österreich für die Anwendungen des Kletterns als Therapie schult, hat die Erfahrung gemacht, dass „man mit dem Klettern als Begleittherapie zu anderen psychotherapeutischen Maßnahmen sehr viel erreichen kann“. Besonders viel bringe das Training Kindern und Jugendlichen mit Konzentrationsschwächen und daraus resultierenden Lernschwächen oder Sprachstörungen: Sie lernen beim Klettern, sich zu konzentrieren. Weil das Klettern über die Erfolgserlebnisse Spaß macht sowie Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen stärkt, helfe es, so Zajetz, auch als Begleittherapie gegen Körperwahrnehmungsstörungen, wie sie z. B. bei Essstörungen auftreten, oder gegen verschiedene Angststörungen wie klassischerweise gegen Höhenangst. Auch bei Menschen mit Depressionen hat Zajetz das Klettern schon erfolgreich eingesetzt. Einige von ihnen haben durch das therapeutische Klettern eine Freude am Klettern in den Bergen entdeckt, betreiben es als Freizeitsport und konnten so sogar ein Wiederaufflammen der Erkrankung verhindern.

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Vom Training zur Therapie

Am Anfang war das sogenannte Bouldern, bei dem man auf Kletterwänden in Kletterhallen oder auch im Freien über weichen Matten kletterte, um für das Klettern in den Bergen zu trainieren. Aus dem Bouldern entwickelte sich in den 1990er Jahren das therapeutische Klettern. Anders als beim Bouldern ist die Wand beim therapeutischen Klettern niedriger, und es wird oft nur knapp über dem Boden geklettert. Auch ist die Wand beim therapeutischen Klettern nicht senkrecht, sondern ein wenig nach hinten geneigt, um das Klettern zu erleichtern. Darüber hinaus sind die Haltegriffe beim therapeutischen Klettern besonders benutzerfreundlich geformt, sodass man als Ausrüstung lediglich leichte Turnschuhe mit flexibler Sohle benötigt – und darüber hinaus eine möglichst dehnbare Kleidung.

Foto: iStock, davidf

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