Leben & Arbeiten

Arbeitssucht: Gefangen vom Erfolgsstreben

Immer mehr, immer schneller und immer perfekter arbeiten: Das ist in unserer Leistungs- und Stressgesellschaft nicht nur ein Muss, es gilt auch als chic. Doch wenn nur noch der Job und die Gedanken daran das Leben beherrschen, sollten die Alarmglocken schrillen. Denn ein zwanghafter Umgang mit Arbeit, sprich: die Arbeitssucht, kann zu vielfältigen Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Gesundheit führen.
 
Von Mag. Sabine Stehrer

INTERVIEW
In MEDIZIN populär spricht Dr. Günther Possnigg, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapeut in Wien, über Ursachen und Auswege.

MEDIZIN populär
Herr Dr. Possnigg, wenn ich mitten in den Recherchen für eine große, spannende Geschichte stecke und nicht vom Schreibtisch weg zu bekommen bin, gelte ich dann als arbeitssüchtig?

Dr. Günther Possnigg
Nein, arbeitssüchtig wären Sie dann, wenn es Ihnen gar nicht mehr um den Inhalt geht, also darum, welche Geschichte Sie recherchieren, und auch nicht darum, ob diese nun spannend ist oder nicht, sondern wenn nur noch die Arbeit an sich wichtig ist. Und wenn Sie die folgenden Fragen mit Nein beantworten müssen: Kann ich noch an etwas anderes denken, als an die Arbeit? Kann ich einmal eine Arbeit beenden, ohne dass sie für mein Gefühl perfekt geworden ist? Kann ich aufhören, so viel zu arbeiten wie jetzt? Nein? Dann sind Sie zumindest gefährdet, arbeitssüchtig zu werden.

Es gibt Statistiken, die besagen, dass in den USA 49 Prozent der Menschen arbeitssüchtig sind, also fast die Hälfte. In Deutschland sollen 13 Prozent der Arbeitnehmer gefährdet sein, an Arbeitssucht zu erkranken, ein bis zwei Prozent sollen schon erkrankt sein. Weiß man, wie viele Arbeitssüchtige es in Österreich gibt?
Ich denke nicht, dass es dazu seriöse Werte gibt. Dass man zu viel Arbeiten als krankhaftes Verhalten betrachtet, das behandelt werden sollte, ist ja noch neu. Und wer sagt schon von sich selber, dass er arbeitssüchtig ist?

Was können Ursachen für das Entstehen von Arbeitssucht sein?
Die Hauptursache ist wohl eine narzisstische Veranlagung, wie sie viele von uns haben. Diese bringt mit sich, ein selbstbezogenes Ideal kompromisslos und wie besessen anzustreben. Das Ideal der Arbeitssüchtigen ist der berufliche Erfolg, und deswegen streben sie danach. Sie wollen gut sein, wobei „gut“ perfekt bedeutet. Und auf dem Weg zur Perfektion im Beruf werden alle anderen Lebensbereiche unwichtig. Eine fast ebenso häufige Ursache von Arbeitssucht ist der Versuch, der Neigung zu widerstehen, sich anderen Süchten hinzugeben, wie der Alkohol- oder Drogensucht. Oft haben die Betroffenen einen Suchtkranken in der Familie und sagen sich zum Beispiel: Mein Vater war Alkoholiker, mir kann das nicht passieren, ich muss ja arbeiten. Für manche Arbeitssüchtige ist die Arbeit schließlich deswegen zum einzigen Lebensinhalt geworden, weil sie sonst keinen Halt haben, also keinen Partner, keine Partnerin, keine Familie, keine Freunde.

Sind Angehörige bestimmter Berufsgruppen besonders gefährdet, arbeitssüchtig zu werden?
Ich denke schon. In der IT-Branche ist es so, dass die Sucht nach der Beschäftigung mit dem Computer und mit dem Internet oft in eine Arbeitssucht übergeht. Aber auch Menschen in kreativen, sozialen oder wissenschaftlichen Berufen, wo der Übergang von der Arbeit zur Freizeit fließend ist, man also am Abend nicht einfach den Bleistift fallen lassen kann und dann einen freien Kopf hat, sind meiner Ansicht nach stärker als andere gefährdet.

Was passiert, wenn ein Arbeitssüchtiger nichts gegen seine Sucht unternimmt?
Das ist wohl von Mensch zu Mensch verschieden. Aus meiner Erfahrung heraus kann es zunächst zu psychosomatisch bedingten Beschwerden kommen wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Nervosität, Zittern. Diese Beschwerden können chronisch werden, Bluthochdruck oder andere Herz- und Kreislauferkrankungen stellen sich ein, Herzinfarkte und Schlaganfälle drohen. Dazu besteht die Gefahr, dass der Arbeitssüchtige Begleitsüchten verfällt und etwa beginnt, dauerhaft zu viel Alkohol zu trinken. Außerdem bekommen die meisten Arbeitssüchtigen Beziehungsprobleme, entweder mit dem Partner, der Partnerin, oder mit Freunden, die sie immer wieder versetzen, um mehr arbeiten zu können.

Sind wir stärker gefährdet, an Arbeitssucht zu erkranken, seit wir über das Handy und den Laptop immer und überall arbeiten können und auch sollen?
Äußerer Druck ist keine Bedingung dafür, dass Arbeitssucht entstehen kann, mitauslösen kann er sie schon.

Welche Rolle spielt der Arbeitgeber beim Entstehen der Arbeitssucht?
Die meisten Chefs verschlimmern die Erkrankung, weil sie positiv auf den vermehrten „Fleiß“ reagieren.

Können Partner oder Freunde etwas unternehmen, um jemanden von der Arbeitssucht wegzubringen?
Sie können versuchen, den Arbeitssüchtigen oder die Arbeitssüchtige von der Arbeit und von den Gedanken daran abzulenken, indem sie gemeinsame Freizeitbeschäftigungen planen oder die Betroffenen in Tätigkeiten einspannen, die sinnvoll sind, sie aber von der Arbeit weg bringen. Allerdings muss ich sagen, dass das selten gelingt.

Kann man Arbeitssucht behandeln, und wenn ja, wie?
Mit Psychotherapien werden durchwegs gute Erfolge erzielt. Dabei muss es darum gehen, die Einstellung der betroffenen Person zu sich selber zu verändern und alte Glaubenssätze und Vorurteile zu überprüfen und gegebenenfalls über Bord zu werfen. Manchen Arbeitssüchtigen hilft auch der Besuch von Selbsthilfegruppen wie den Anonymen Arbeitssüchtigen.

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10 Merkmale der Arbeitssucht

  • Arbeitssüchtige können an nichts anderes mehr denken als an die Sucht und können sich nicht davon distanzieren.
  • Sie beurteilen sich und den Tag nach der Menge der geleisteten – und noch nicht geleisteten – Arbeit.
  • Sie stehen häufig unter Zeitdruck.
  • Sie haben einen hohen Perfektionsanspruch.
  • Arbeitssüchtige nehmen sich zu viel vor und arbeiten bis zur völligen Erschöpfung.
  • Sie möchten viel in kurzer Zeit mit geringem Aufwand erreichen.
  • Sie weisen Einladungen mit dem Hinweis zurück, dass sie zu viel Arbeit haben.
  • Ist die Arbeit einmal beendet, suchen sich die Arbeitssüchtigen andere „Arbeiten“ wie den Hausputz oder die Kellerentrümpelung.
  • Ein Urlaub ganz ohne Arbeit kommt nicht mehr vor und ist auch nicht vorstellbar.
  • Arbeitssüchtige glauben, etwas leisten zu müssen und sich und ihr Lebensrecht durch Arbeit beweisen zu müssen.

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So bannen Sie die Suchtgefahr

  • Stopp sagen, wenn man bemerkt, dass die Arbeit immer mehr Zeit und Energie beansprucht und in gewisser Weise das gesamte Leben ausfüllt.
  • Bewusst andere Beschäftigungen neben der Arbeit suchen, bewusst Beziehungen pflegen, neue Hobbys ausprobieren.
  • Den Stellenwert überdenken, den die Arbeit im eigenen Leben hat, und ihr einen neuen Stellenwert geben, versuchen, ein bisschen weniger perfekt, schnell, kompetent und für alle und alles offen zu sein.

Beratung und Hilfe:
Anonyme Arbeitssüchtige                                                             
Österreichweites Kontakt-Telefon: 0664/874 53 30

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Betroffene berichten

Scheidung durch Arbeit
Peter K.*, 46, erzählt, wie er sich von der Sucht befreit hat
Ich glaube, süchtig nach Arbeit bin ich geworden, als meine Chefs damit begonnen haben, mich für Extra-Leistungen extra zu belohnen. Mehr Arbeit hat auf einmal sehr viel mehr Geld bedeutet. Also habe ich mehr gearbeitet und zugleich meinen Lebensstandard erhöht, ein Haus gebaut, ein größeres Auto angeschafft, teurere Reisen unternommen. Ich habe immer mehr gearbeitet, meine Frau hat sich immer öfter darüber beschwert, dass ich keine Zeit für sie habe, schließlich wollte sie die Trennung. Wir haben uns scheiden lassen, und es war mir egal, ich hatte eh die Arbeit und den Erfolg, war hochgeschätzt.
Nach der Scheidung habe ich allein gelebt, nur noch gearbeitet, und wenn ich dann endlich einmal daheim war, habe ich mich betrunken. Irgendwann habe ich mir gedacht: So, wenn man dir jetzt die Arbeit und den Alkohol wegnehmen würde, hättest du nichts und niemanden mehr. Das hat mich so erschreckt, dass ich beschlossen habe, etwas zu unternehmen. Ein paar Monate später habe ich bei den Anonymen Arbeitssüchtigen angerufen, dort hat man mir zu einer Psychotherapie geraten. Aber erst seit ich mein Leben total geändert habe, geht es mir gut. Ich habe mir eine neue Stelle gesucht, arbeite jetzt weniger, habe mehr Zeit für mein Hobby, das Golfen, und lebe auch in einer neuen, guten Beziehung.

Nie Zeit Für Freunde
Helene L.*, 40, erzählt, wie sie in die Suchtspirale geraten ist
Eigentlich habe ich mir immer gedacht, ich möchte einmal heiraten und eine Familie gründen. Das hat aber nicht sein sollen, vielleicht auch, weil ich sehr viel Zeit und Energie in meinen Job investiert habe, der mir aber immer auch Spaß gemacht hat. Auf den Gedanken, dass ich ein Problem mit dem Arbeiten haben könnte, hat mich eine Freundin gebracht. Sie hat es mir auf den Kopf zugesagt, nachdem ich zum dritten Mal in Folge ein Treffen mit ihr abgesagt hatte.

Zuerst wollte ich es nicht wahrhaben, aber dann ist mir schon auch aufgefallen, dass ich in den Monaten davor nie Zeit für Freunde gehabt habe. Wenn ich nicht arbeiten musste, musste ich dringende Haushaltstätigkeiten erledigen, und wenn die gemacht waren, war irgendetwas anderes unaufschiebbar, wie Gartenarbeiten machen oder auch nur Einkaufen. Ich habe mich aber am Riemen gerissen und inzwischen bin ich so weit, dass ich es schaffe, zumindest an Samstagen all das zu unterlassen, was mit Arbeit zu tun hat.

*) Namen sind der Redaktion bekannt
   

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