Neurologie & Psyche

Internetsucht: Gefangen im weltweiten Netz

Schätzungsweise 60.000 Österreicherinnen und Österreicher sind süchtig danach, online zu sein. Was harmlos klingt, hat oft fatale Folgen: Denn die Internetsucht ist untrennbar mit sozialer Isolation verbunden, die sogar mit sich bringen kann, dass die Familie zerbricht und/oder der Arbeitsplatz verloren geht bzw. die Schule abgebrochen wird. In vielen Fällen nimmt auch die körperliche Gesundheit des Internetsüchtigen Schaden. MEDIZIN POPULÄR über Ursachen und Auswege.

Von Mag. Sabine Stehrer

INTERVIEW mit Suchtexperten Prim. Dr. Hans Zimmerl,
Facharzt für Psychiatrie und Neurologie,
Anton Proksch-Institut, Wien

MEDIZIN POPULÄR: Herr Primar Zimmerl, angenommen, ich setze mich jeden Abend nach der Arbeit zu Hause vor den Computer, rufe meine E-Mails ab, beantworte sie und schaue mir anschließend noch eine Zeit lang die Homepages verschiedener Medien an: Bin ich dann schon Internet-süchtig?

Prim. Dr. Hans Zimmerl: Wenn Sie sich so verhalten, wie Sie es beschreiben, sind Sie sicher nicht süchtig. Allerdings ist die Grenze zwischen einer normalen Verwendung des Internets und einer Nutzung, die einem Suchtverhalten entspricht, fließend.

Es gibt aber doch sicher Symptome, die eindeutig auf eine Internetsucht hinweisen.
Ja, Internet-süchtig ist man dann, wenn alles Denken und Handeln darauf ausgerichtet ist, online zu sein, und wenn quälende Fantasien darüber auftreten, was man versäumen könnte, wenn man einmal nicht im Netz ist. Zu den Symptomen der Internetsucht zählen darüber hinaus auch noch der Verlust der Kontrolle über die online verbrachte Zeit und das Phänomen der so genannten Toleranzsteigerung, bei der der User sein Online-Verhalten quantitativ und qualitativ ständig intensivieren muss, um befriedigt zu sein. Ein anderes Merkmal der Internetsucht ist auch die Unfähigkeit zur Verhaltensänderung. Damit meine ich, dass der Internetsüchtige trotz der Offensichtlichkeit der negativen Folgen seines Verhaltens nicht aus eigenen Stücken fähig ist, sein Verhalten zu korrigieren.

Wie viele Österreicherinnen und Österreicher sind von dieser Sucht betroffen?
Dazu haben wir keine Zahlen. Aber es gibt eine Berliner Studie, in deren Rahmen 10.000 Userinnen und User über ihre Internet-Nutzungsgewohnheiten befragt wurden. Nach den Ergebnissen dieser Befragung besteht eine Abhängigkeitsrate von rund drei Prozent. Wenn wir diese drei Prozent auf österreichische Verhältnisse umrechnen, wo täglich zwei Millionen Menschen das Internet nutzen, kommen wir vorsichtig geschätzt auf rund 60.000 Internetsüchtige.

Gibt es bestimmte Altersgruppen, soziale Gruppen, Berufsgruppen, die besonders gefährdet sind, Internet-süchtig zu werden?
Grundsätzlich ist niemand davor gefeit, in eine Abhängigkeit vom Internet zu geraten. Eine gewisse Neigung zur Realitätsflucht und zu süchtigem Verhalten spielt aber schon eine Rolle. Oft sind Internet-süchtige ja zugleich alkoholabhängig, betreiben einen Cannabis-Missbrauch, oder sie leiden unter einer Essstörung. Sozialfaktoren spielen ebenfalls eine Rolle, wenn es um die Anfälligkeit für Internetsucht geht. Kinder und pubertierende Jugendliche sind zum Beispiel besonders gefährdet, sich im Netz zu verfangen, weil sie in ihrer Experimentierlust die Chancen und Risken dieses Mediums oft falsch einschätzen. Auch vereinsamte Singles und Arbeitslose sind stärker gefährdet als in die Gesellschaft integrierte und selbstbewusste Personen.

Gibt es den typischen Weg in die Internetsucht?
Am Beginn steht oft eine Leidenschaft für dieses objektiv hochinteressante Medium. Wenn nun die Internetsucht-anfälligen Menschen bemerken, dass sie im virtuellen Raum Erfahrungen machen können, die ihnen im realen Leben verwehrt sind, wenn sie Anerkennung erleben und Zuwendung, oder wenn sie in Rollenspielen Scheinerfolge erzielen, kurz, wenn sie merken: „Im Internet, da bin ich wer!“, ist die Gefahr groß, dass sie sich sukzessive darin verfangen.

Und dann verändert sich ihr gesamtes Leben …
Ja, auf das Sich-Verlieren und Gefangen-Sein im Netz folgen das Kappen der Sozialkontakte und die soziale Selbstisolierung. In einem nächsten Schritt brechen Jugendliche oft die Schule ab, Erwachsene verlieren ihren Arbeitsplatz und zerstören ihr Familienleben. Bereits bestehende psychische Krankheiten können sich im Zusammenhang mit der Internetsucht verschlimmern.
Auch körperliche Folgeschäden der Internetsucht sind bekannt. Da reicht die Palette von Augenerkrankungen über Verspannungen der Nacken- und Rückenmuskulatur sowie Schmerzen am Bewegungsapparat bis hin zu lebensbedrohlichen Zustandsbildern zum Beispiel durch wochenlanges Onlinespielen bei gleichzeitigem Verzicht auf Schlaf und auf die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeitszufuhr.
Es kommt auch vor, dass Menschen durch die Internetsucht in die Schuldenfalle geraten, weil sie etwa bei Versteigerungen oder Glücksspielen im Netz immer wieder viel Geld verlieren.

Was passiert, wenn ein Internetsüchtiger seiner Sucht nicht nachgeben kann?
Wie bei anderen Abhängigkeitserkrankungen findet man bei Internetsüchtigen, die unfreiwillig offline sind, Entzugssymptome wie Reizbarkeit, Unruhe, Unkonzentriertheit.

Können Angehörige oder Freunde einem Internetsüchtigen dabei helfen, sich von der Sucht zu befreien?
Was man tun kann, ist, sich für das Verhalten des Betroffenen zu interessieren und seinen Kontakt zur Außenwelt forcieren, also etwa Freunde einladen, Essen gehen.

Kann man einen Internetsüchtigen therapieren, und wenn ja, wie?
Dazu gibt es keine allgemeingültigen Regeln. Eine psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung muss sich immer am Einzelfall orientieren und kann in Österreich zum Beispiel bei uns im Anton Proksch-Institut in Wien erfolgen, das von Professor Michael Musalek geleitet wird. Ziel der Therapie ist nicht die totale Abstinenz von der „Droge“, so wie bei der Behandlung von substanzgebundenen Süchten wie der Alkohol- oder Drogensucht, sondern das Erreichen eines kontrollierten, selbstbestimmten Gebrauches dieses Mediums.

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5 Merkmale der Internetsucht

  • Fokussierung: Der Brennpunkt des Denkens und der Handlungsintention richtet sich darauf, online zu sein. Hier ist eine Art von Gier, auch „craving“ genannt, zu beobachten.
  • Kontrollverlust: Der online verbrachte Zeitrahmen kann nicht kontrolliert werden. Oft – nicht immer – findet sich auch das Phänomen der Toleranzsteigerung. Der User und die Userin müssen zur Befriedigung ihr Online-Verhalten ständig intensivieren.
  • Negative Konsequenzen werden ignoriert: Durch das exzessive Online-Verhalten treten psychosoziale und auch körperliche Folgeschäden auf, die aber vom Süchtigen ignoriert werden.
  • Entzugssymptome: Reizbarkeit, Unkonzentriertheit, Unruhe.
  • Unfähigkeit zur Verhaltensänderung: Aus eigener Kraft ist der Internetsüchtige nicht fähig, sein Verhalten zu ändern. Er zeigt auch suchttypische Abwehrmechanismen – von der Verleugnung/Bagatellisierung über die Projektion bis hin zur Rationalisierung, also dem Erfinden ausgeklügelter Rechtfertigungsstrategien.

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Süchtig nach dem Handy?
Nach einer Umfrage in den USA kann sich ein knappes Drittel der Handybesitzer nicht mehr vorstellen, ohne Handy zu leben – mehr als die Hälfte lässt das Gerät immer eingeschaltet. Teilnehmer einer wissenschaftlichen Studie in Australien fühlten sich ohne Handy sogar so, „als würde eines ihrer Glieder fehlen“. Und im Rahmen einer Studie in Südkorea, wo praktisch jeder ein Handy besitzt, wurden bei Handynutzern eindeutige Suchtsymptome festgestellt. Wie bei der Internetsucht lautet auch bei der Handysucht das Therapieziel: Verringerung des Gebrauchs und Erlernen eines souveränen Umgangs mit dem Gerät.
Ansonsten hätten Internetsucht und die so genannte Handysucht aber keine Gemeinsamkeiten, sagt Prim. Dr. Hans Zimmerl. Und: „Das Internet ist ein interaktives Medium mit der Möglichkeit der anonymen Selbstdarstellung und des Einstiegs in digitale Parallelwelten, das Handy ist nur ein Kommunikationsmittel.“ Bei einem intensiven Gebrauch des Geräts gleich die Diagnose „Handysucht“ zu stellen, dieser Vorgangsweise stehe er skeptisch gegenüber.

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BETROFFENE BERICHTEN

Bloß nichts versäumen!

Nora L.*, 32, erzählt, warum sie am liebsten online ist
Ich denke, ich bin eine von denen, die das Internet intensiver nutzen als andere. Ich glaube, ich bin jeden Tag so vier bis sechs Stunden online, es kann aber auch länger sein. Irgendwie übersehe ich dabei immer, wie die Zeit dahingeht. Am faszinierendsten finde ich es, mich im „Second Life“ zu bewegen und dort an Projekten mitzuarbeiten, oder auf den Auktionsplattformen zu schauen, was es alles zu kaufen gibt. Ich habe dort auch schon Dinge ersteigert und umgekehrt Sachen von mir verkauft.

Wenn ich offline bin, muss ich immer daran denken, was ich jetzt wohl wieder da oder dort versäume. Seit kurzem versuche ich aber, mich zu beherrschen und dann nicht gleich zum nächsten Computer zu rennen, denn ich weiß, dass ich meinen Internet-Konsum einschränken sollte, weil ich komme in meiner Freizeit zu sonst nichts mehr. Meine Familie und meine Freunde haben sich schon bei mir beschwert, dass ich immer nur vor dem Bildschirm sitze, und ich sehe ein, dass das nicht gut für mich ist.

Samstags ohne Internet
Thomas K.*, 41, erzählt, wie er in die Internetsucht schlitterte und wie er ihr zu entkommen versucht
Ich habe vor rund 15 Jahren damit begonnen, mich beruflich mit dem Internet zu beschäftigen und war sofort fasziniert vom World Wide Web. Es hat keine Woche gedauert, bis ich mir auch privat einen Internet-Anschluss beschafft hatte. Zuerst habe ich vor allem die Möglichkeiten genutzt, immer auf dem Laufenden zu sein, immer zu wissen, was gerade passiert.

Nach einiger Zeit habe ich dann die Chatforen für mich entdeckt, ich habe es toll gefunden, mit Menschen kommunizieren zu können, die irgendwo auf der Welt zur selben Zeit wie ich vor einem Bildschirm sitzen und auch noch die gleichen Interessen haben. Natürlich habe ich auch versucht, im Chatforum mit Frauen anzubandeln. Mit den meisten hatte ich auch länger Kontakt, zu einem Treffen in der Realität ist es aber nie gekommen, ich habe nicht einmal meine private E-Mail-Adresse hergegeben oder meine Telefonnummer, ich hatte ja eine Freundin.

Meine Partnerin hat sich zuerst immer öfter darüber beschwert, dass ich nur noch vor dem Computer sitze, dann hat sie viel allein unternommen, dabei schließlich einen anderen Mann kennen gelernt und mich verlassen. Etwa zur gleichen Zeit habe ich auch noch Schwierigkeiten mit meinem Chef bekommen, weil ich während der Arbeitszeit gechattet und mir ständig Websites angeschaut habe, die mit meiner Arbeit rein gar nichts zu tun hatten. Als er mir mit Kündigung drohte, war mein erster Gedanke: Wenn ich arbeitslos bin, kann ich mir womöglich das Surfen im Internet nicht mehr leisten, und das Glückspielen im Netz auch nicht, mit dem ich inzwischen angefangen hatte. Das hat mich selber erschreckt. Ich habe dann versucht, meinen Internetkonsum und vor allem das Spielen nur noch auf die Freizeit zu beschränken.
Heute bin ich schon so weit, dass arbeitsfreie Samstage bei mir auch Internet-freie Tage sind. Darauf bin ich sehr stolz.

*) Namen sind der Redaktion bekannt

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Foto: iStock, SB Arts Media

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