Akkurat jetzt, wo Sie ohnehin viel um die Ohren haben, kratzt der Hals und auf der Lippe sprießt eine Fieberblase? Oder Sie verbringen den lang ersehnten Urlaub mit grippalem Infekt im Hotelzimmer anstatt mit einem fruchtigen Smoothie am Sandstrand? Kranksein kommt nie wirklich gelegen. Doch warum erkranken wir oft zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt während oder nach einer großen Belastung? Ein Experte erklärt das enge Zusammenspiel von Psyche und Immunsystem.
Von Mag. Alexandra Wimmer
Endlich zwei Wochen Urlaub an der portugiesischen Algarve! Die Koffer sind gepackt, das Taxi zum Flughafen bestellt, das Reisefieber wächst. Leider wird daraus kurz vor der Abreise richtiges Fieber: Die 40-jährige Karin P. niest und hustet. Und anstatt im ersehnten Feriendomizil landet sie im Bett – zur großen Enttäuschung der beiden Kinder. Schweren Herzens muss die alleinerziehende Juristin die Reise stornieren. „Das ist schon das dritte Mal, dass ich kurz vor oder während des Urlaubs krank werde“, klagt sie. Sie traue sich schon gar nicht mehr zu buchen. „Mein Körper lässt mich garantiert wieder im Stich.“ Doch tut er das wirklich?
Krank in der Freizeit
Mit dem Problem ist Frau P. jedenfalls nicht allein: Das Phänomen, im Urlaub oder am Wochenende krank zu werden, hat sogar einen Namen Freizeitkrankheit, „Leisure Sickness“. Eine Untersuchung von niederländischen Forschern ergab, dass 3,5 Prozent der Männer und drei Prozent der Frauen betroffen sind. Als besonders gefährdet gilt, wer beruflich oder privat sehr unter Druck steht, perfektionistisch und sehr ehrgeizig ist.
Dazu zählt auch Vera S., mit 27 Jahren Chefin einer angesagten Werbeagentur. Nach harten Arbeitswochen gönnt sie sich ein freies Wochenende an einem Badesee. Wieder zuhause bemerkt sie nicht nur eine leichte Bräune sondern auch brennende Schmerzen beim Urinieren: „Schon wieder ein Harnwegsinfekt!“ Bei dem Controller Werner D. sprießen bei Stress Fieberblasen. „Ausgerechnet vor einer wichtigen Konferenz”, sagt er frustriert.
Abwehrsystem unter Druck
Ist man chronisch belastet oder kurzfristig extrem gefordert, führt man ein Leben unter Hochdruck, so schwächt dies das Immunsystem – es kommt zu einer Immunsuppression. Das heißt, die zelluläre Abwehraktivität wird gehemmt, sodass Erreger wie Viren ein leichtes Spiel haben – man wird leichter krank. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Stress körperlicher oder emotionaler Natur ist – ob man beruflich viel zu tun hat oder eine schwere Krise in der Partnerschaft erlebt.
„Durch die vermehrte Ausschüttung der Stress-Botenstoffe Cortisol und Katecholamine kommt es zu einer Verschiebung der T-Helferzell-Balance“, erklärt Univ. Prof. DDr. Christian Schubert, der als Psychoneuroimmunologe seit mehr als 20 Jahren das Zusammenspiel von Psyche, Immunsystem und Gehirn erforscht. T-Helfer (TH)-Zellen sind weiße Blutkörperchen, Leukozyten. Bei stark ausgeprägtem Stress nimmt die Immunaktivität der TH1-Zellen ab und die der TH2-Zellen zu. Die TH1-Schwäche hat zur Folge, dass man anfälliger für virale Erkrankungen wird; langfristig dürfte auch das Krebsrisiko steigen. Die TH2-Stärkung wiederum erhöht das Risiko, eine allergische Erkrankung zu entwickeln, die Symptome bereits bestehender Allergien oder Autoimmunerkrankungen können sich verschlimmern. Zudem heilen bei eingeschränkter zellulärer Immunabwehr Wunden schlechter und Impfungen wirken weniger gut. Ehe ein Arzt die Impfnadel setzt, sollte er nicht nur in den Mund schauen, sondern sich auch vom psychischen Zustand ein Bild machen. „Geht es jemanden psychisch gut, kann man davon ausgehen, dass auch die Immunsituation stark ist“, sagt Schubert. Man wird auf die Impfung besser ansprechen als wenn man chronisch überlastet ist.
Migräne wie Mama
Wie der Organismus auf die herabgesetzte Immunabwehr reagiert, ist individuell unterschiedlich. Während Vera sich „gern“ eine Blasenentzündung einfängt, bekommen andere Probleme mit der Verdauung. Und Werners Immunsystem kann die „schlummernden“ Herpesviren nicht mehr in Schach halten. Möglicherweise haben die Reaktionen auch damit zu tun, dass wir „uns unbewusst an den Modellen aus unserer Kindheit“ orientieren, sagt Schubert. Wenn die Mutter bei Stress eine Migräne bekam, reagiert die Tochter in belastenden Situationen später vielleicht genauso.
Bestimmte Krankheiten könnten auch mit tieferen Konflikten verknüpft sein. Der Experte verweist auf eigene intensive Forschungen zu Autoimmunerkrankungen: „Womöglich erkranken jene eher daran, die mit Wut und Ärger nicht richtig umgehen können. Denkbar wäre, dass sie in Situationen, in denen sie sich unterdrückt fühlen, die Wut unbewusst gegen sich selbst richten anstatt aufzubegehren.“
Zeit zum Kranksein
Und warum erkranken manche quasi zeitversetzt, in der Freizeit? „Bei Stress oder psychischen Belastungen dürfte das Immunsystem in mehreren Phasen und mit unterschiedlicher Zeitverzögerung reagieren“, erläutert Schubert. Die stressbedingte Hemmung der zellulären Immunaktivität dauert an, sodass es mit einer zeitlichen Verzögerung im Urlaub zu einer Infektionserkrankung kommen kann. Nicht nur die belastende Zeit selbst, auch der Übergang von der Anspannung zur Entspannung in der Freizeit ist oft herausfordernd: Da steht man ständig unter Strom und plötzlich – ist nichts zu tun! Auch das kann paradoxerweise Stress bedeuten. Mit ein Grund, warum manchmal Erkrankungen mit Beginn der Pension auftreten.
Auch unbewusste Ängste könnten das Krankwerden verzögern – man möchte nicht als schwach gelten, fürchtet einen Karriereknick oder sogar den Jobverlust. „Man verschiebt gleichsam die längst fällige Krankheit“, beobachtet der Arzt. Man vermiest sich zwar den Urlaub oder das Wochenende, zu Arbeitsbeginn ist man dafür wieder funktionstüchtig. Manche nehmen während des hektischen Alltags Anzeichen einer Unpässlichkeit gar nicht wahr. Oder sie übergehen diese, indem sie Schmerztabletten oder antientzündliche Medikamente schlucken.
Wer die Symptome eines grippalen Infekts mit Medikamenten bekämpft, sich aber nicht schont, wird vielleicht bald wieder krank. Mit dem Krankheitsgefühl („Sickness behavior“) arbeitet das Immunsystem mit einem ausgeklügelten „Trick“, damit wir uns schonen: Wir fühlen uns schlapp, abgeschlagen, haben keinen Appetit, wollen uns zurückziehen und einfach nur schlafen. Wie man erst seit kurzem weiß, sind diese Reaktionen auf bestimmte Hormone zurückzuführen. „Wenn das Immunsystem aufgrund eines Infekts aktiviert wird, sendet es Zytokine aus, die im Gehirn eine Veränderung in unserer Psyche hervorrufen“, erklärt der Experte. Die Zytokine beeinflussen sogar unser Sozialverhalten: Im Gehirn werden jene Zentren aktiviert, die dazu führen, dass wir dann nur mit vertrauten Menschen zusammen sein wollen. Um bald wieder fit zu sein, sollte man den Bedürfnissen nachgeben.
Stressoren im Griff
Speziell bei wiederkehrenden Beschwerden und schweren Erkrankungen empfiehlt Schubert, dass man versucht, etwa im Rahmen einer Psychotherapie die psychischen Hintergründe aufzudecken und zu lernen, mit Stressoren umzugehen. Ehe man Krankheiten heilen kann, muss man sie verstehen. Vielleicht zeigt uns der Organismus damit eine Grenze auf? Womöglich lässt ihr Körper Juristin Karin gar nicht im Stich?
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Beziehungen als Medizin:
Bei Einsamen rinnt die Nase schneller
Liebevolle Beziehungen sind ein immer noch unterschätztes „Stärkungsmittel“ für das Immunsystem. In einer aktuellen Studie untersuchte man den Zusammenhang zwischen liebevollen Eltern-Kind-Beziehungen und der Wirksamkeit von Impfungen: Zehn- bis elfjährige Kinder diskutierten mit einem Elternteil eine häufige Konfliktsituation. Ein halbes Jahr später wurden die Kinder gegen Meningokokken geimpft. Bei jenen, deren Eltern in der Diskussion emotional kühl reagierten, zeigte die Impfung eine schlechtere Wirkung als bei jenen mit emotional warmen Eltern.
Aus einer aktuellen Untersuchung weiß man zudem, dass sogar ein Schnupfen eher auftritt, wenn man sich einsam fühlt. Wissenschaftler der Rice University in Houston, Texas, wollten von 213 gesunden Testpersonen wissen, wie einsam oder gut integriert sie sich fühlten. Dann wurden die Probanden künstlich mit Schnupfen-Viren infiziert. Das Ergebnis: Bei jenen Personen, die sich als einsam beschrieben hatten, fielen die Symptome deutlich schwerer aus als bei jenen, die sich in ihren Beziehungen gut aufgehoben fühlten.
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Stress lass nach!
So stärken Sie Ihre Abwehrkräfte
Um gesund zu bleiben, sollte es Phasen der Erholung nicht nur im Urlaub geben. Achten Sie täglich auf den Ausgleich von Aktivität und Ruhe. Planen Sie Zeiten der Entspannung ein, indem Sie beispielsweise bewusst atmen oder meditieren.
Gestalten Sie den Wechsel von der Arbeits- zur Freizeit aktiv, indem Sie moderat sporteln. Das Laufen und Spazierengehen im Wald ist aufgrund des speziellen Klimas dort eine besondere Wohltat für den Organismus.
Die Fähigkeit, Dinge gelassener zu nehmen, trägt ebenfalls erheblich zur Entspannung bei. „Durch Entspannung wird weniger von den Stressbotenstoffen Katecholamine und Cortisol ausgeschüttet und das T-Helfer 1-System wird gestärkt“, betont Univ. Prof. DDr. Christian Schubert, der das Labor für Psychoeuroimmunologie an der Universitätsklinik in Innsbruck leitet. Das hat günstige Auswirkungen auf Immun-, Herz-Kreislauf-System und Psyche.
Buchtipp:
Schubert,
Was uns krank macht – was uns heilt
Aufbruch in eine neue Medizin
Das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele besser verstehen
ISBN 978-3-903072-17-6, 240 Seiten
Verlag Fischer & Gann, € 24,70
Stand 06/2017