Eine frühe Diagnose öffnet den Weg für wirksame Therapien, dadurch können MS-Betroffene ein weitgehend normales Leben führen.
v on Mag. Wolfgang Bauer
In Österreich leben um die 13.000 Menschen mit der Diagnose Multiple Sklerose (MS), einer chronisch-entzündlichen Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems. Autoimmunerkrankung bedeutet, dass aufgrund einer Fehlsteuerung des Immunsystems körpereigenes Gewebe angegriffen und geschädigt wird. Im Falle von MS nimmt das Myelin, die Schutzschicht, die die Nervenfasern umgibt, Schaden. Die Beschwerden hängen nun davon ab, welche Teile des zentralen Nervensystems beeinträchtigt sind. So kann es zu Sehstörungen oder auch zu Müdigkeit und Erschöpfung kommen. Weil das zentrale Nervensystem unter anderem für die Motorik und das Gleichgewicht zuständig ist, können auch Koordinationsstörungen oder Schwächen beim Gehen auftreten.
Wenn die neurologischen Ausfälle zum ersten Mal bzw. zum wiederholten Mal auftreten, spricht man von einem Schub. Mit einem schubförmigen Verlauf beginnen 85 Prozent der MS-Fälle. Die Schub-Häufigkeit ist so unterschiedlich ausgeprägt wie die Krankheit selbst, so können zum Beispiel zwischen zwei Schüben auch einige Jahre vergehen. Multiple Sklerose ist nicht heilbar, sie kann aber durch einige Faktoren sehr günstig beeinflusst und ihr Fortschreiten gestoppt werden.
Frühe Diagnose
Die Diagnose Multiple Sklerose wird von den Betroffenen zumeist mit großer Sorge aufgenommen. Bilder von Gehbeeinträchtigungen, Lähmungen, ja von einem Leben im Rollstuhl gehen den Patienten durch den Kopf. Zu Unrecht, wie Univ. Prof. Dr. Thomas Berger, Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Wien, betont: „Ein Großteil der MS-Patienten kann dank moderner Therapien ein ganz normales Leben führen. Je früher eine Diagnose vorliegt, desto rascher kann die Therapie einsetzen, und desto besser können wir das Fortschreiten der Multiplen Sklerose aufhalten“, so Berger. Auch die Anzahl und die Intensität der Schübe kann durch eine frühe Diagnose reduziert werden.
Die Diagnose der Multiplen Sklerose wird von Neurologen in neurologischen Kliniken oder Ordinationen in vier Schritten erstellt:
SCHRITT EINS
Schilderung der Beschwerden
SCHRITT ZWEI
Neurologische Untersuchung
SCHRITT DREI
Bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns und des Rückenmarks. Damit können MS-bedingte Entzündungsherde nachgewiesen werden.
SCHRITT VIER
Lumbalpunktion: Liquor (Nervenwasser) wird aus dem Rückenmarkskanal entnommen und im Labor untersucht.
Neue Therapien
Akute Schübe werden mit hochdosiertem Kortison behandelt, eine Therapie, die drei bis fünf Tage dauert. Darüber hinaus gibt es zahlreiche neue medikamentöse Möglichkeiten, um den Krankheitsverlauf gezielt und effektiv zu beeinflussen und weitere Schübe zu verhindern bzw. die beschwerdefreien Zeiträume zu verlängern. Oder um den Schweregrad eines Schubes zu vermindern. Je nachdem, ob es sich um einen moderaten oder um einen aktiven bis hochaktiven Verlauf der Erkrankung handelt.
„Mit den neuen Medikamenten können wir die Schubrate um bis zu 80 Prozent verringern, wie Studien und die Praxis gezeigt haben“, sagt Neurologe Berger. Zusätzlich können einzelne Beschwerden wie rasche Ermüdbarkeit (die sogenannte Fatigue) oder Störungen der Blasenfunktion symptomatisch behandelt werden. Weil die Erkrankung bei jedem Patienten individuell ausgeprägt ist, wird auch die medikamentöse Therapie auf jeden einzelnen Fall individuell abgestimmt.
WICHTIGE FRAGEN FÜR MS-PATIENTEN
Soll man sich mit MS schonen?
Früher war für MS-Patienten Schonung als therapiebegleitende Maßnahme angesagt. Heute ist das anders, sagt Thomas Berger: „Jeder MS-Patient soll das tun, was er für sein Leben als normal empfindet, was den Möglichkeiten entsprechend realisiert werden kann und was Spaß macht.“ Es spricht also nichts dagegen, jene Aktivitäten beizubehalten, die man auch vor der Diagnose gerne gemacht hat, etwa Reisen oder Sport. „Unter meinen Patienten gibt es sogar Hochleis-tungssportler, die regelmäßig und viel trainieren und Wettkämpfe bestreiten“, so der Neurologe. Körperliche Anstrengungen und sportliche Leistungen sind also möglich und sinnvoll, sie lösen keinen Schub aus.
Soll man es dem Arbeitgeber sagen?
Eine wichtige Frage ist, ob arbeitsfähige Betroffene ihren Arbeitgeber bzw. die Arbeitskollegen über die Krankheit informieren sollen. Aus arbeitsrechtlicher Sicht sind Patienten nicht verpflichtet, den Arbeitgeber zu informieren. „Wie man sich verhält, ist eine Gewissensentscheidung“, sagt Neurologe Berger. „Es gibt Arbeitgeber, die sehen überhaupt kein Problem darin, Menschen mit MS einzustellen, sie kommen ihnen in vielerlei Hinsicht entgegen. Es gibt aber immer wieder Fälle, in denen MS-Patienten einen Job aufgrund ihrer Krankheit nicht bekommen oder sogar verlieren.“ In vielen ablehnenden Fällen wissen Arbeitgeber und Kollegen über die Krankheit zu wenig Bescheid, ein Nährboden, auf dem Vorurteile gegenüber MS gedeihen. Daher empfiehlt Berger Betroffenen eine gewisse Zurückhaltung. Er hält es für angebracht, es nur jenen Personen zu sagen, bei denen diese Information gut aufgehoben ist.
Schwanger trotz MS?
Multiple Sklerose tritt in der Altersgruppe der 20- bis 40-jährigen Frauen besonders häufig auf, in einer Altersgruppe, in der das Thema Kinderwunsch relevant ist. Thomas Berger gibt diesbezüglich grünes Licht. „Frauen mit MS haben während der Schwangerschaft kaum Schübe, sie benötigen daher auch keine Therapien. Vielmehr schützt eine Schwangerschaft vor Multipler Sklerose und Schüben“.
Die Krankheit beeinflusst auch nicht die Entwicklung des Kindes. Es besteht lediglich ein sehr gering erhöhtes Risiko, dass auch das Kind von MS betroffen sein wird.
Hilft Komplementärmedizin bei MS?
„Es gibt kaum Patienten, die nicht eine oder mehrere komplementärmedizinische Methoden versuchen“, sagt Thomas Berger. Er sieht im Grunde kein Problem darin, wenn Patienten zusätzlich zur anerkannten MS-Therapie eine bestimmte Ernährungsform oder andere unterstützende Therapien versuchen. Man solle jedoch den behandelnden Arzt darüber informieren, weil es auch Methoden gibt, die entweder schädlich oder unverschämt teuer sind. Seiner Meinung nach fehle den meisten ergänzenden Methoden der streng wissenschaftliche Nachweis durch kontrollierte Studien. Aber – wie bereits erwähnt: „Jeder MS-Patient soll grundsätzlich das tun, was er im Rahmen seiner Möglichkeiten tun kann. Es hilft, die Krankheit besser zu bewältigen“, sagt Neurologe Thomas Berger.
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INTERVIEW
„Die Diagnose MS heißt nicht, dass du im nächsten Jahr bereits im Rollstuhl sitzt“
Cornelia Reiser, 31, hat Multiple Sklerose. Die Salzburgerin ist berufstätig, unternimmt Reisen und plädiert dafür, „im Rahmen der Möglichkeiten all das zu machen, was man machen will“.
MEDIZIN POPULÄR: Sie kommen gerade aus einem Kurzurlaub, bald geht es bereits wieder für einige Tage in den Süden. Sie scheinen sich von der Multiplen Sklerose nicht sehr beeinträchtigen zu lassen. War das immer so?
Cornelia Reiser: Ich habe gerade Urlaub, die freie Zeit nutze ich für kleinere Reisen. So unbeschwert bin ich mit der Erkrankung nicht immer umgegangen. Zum Zeitpunkt der Diagnose war ich 15 Jahre und hatte gerade die Schule gewechselt. Die Diagnose Multiple Sklerose war für mich wie ein Schlag ins Gesicht, ich habe versucht, allen zu zeigen, dass es mir gut geht, dass ich eh gesund bin.
Was hat denn zur Diagnose geführt?
Ich muss vorausschicken, dass bei mir bereits im Alter von zehn Jahren fokale Epilepsie auftrat. Diese Erkrankung wurde ein Jahr vor der MS-Diagnose als geheilt erklärt, ich konnte die Medikamente absetzen. Nun, wenige Wochen nach dem Wechsel von der Hauptschule ins Gymnasium war mir morgens irrsinnig schwindlig. Daher blieb ich zu Hause. Die Beschwerden wurden immer schlimmer, sobald ich den Kopf bewegte, musste ich erbrechen. Ich wurde am Abend mit der Rettung ins Krankenhaus gebracht, wo man eine Störung des Gleichgewichtsorganes der Ohren vermutete. Nach dem Ratschlag, mehrmals täglich Lagerungsübungen durchzuführen, sollte ich wieder nach Hause entlassen werden. Doch meine Mutter bestand darauf, dass man weitere Untersuchungen durchführt, damit eine klare Diagnose vorliegt.
Wie lange hat es gedauert, bis die Diagnose feststand?
Von den ersten Symptomen bis zur effektiven Diagnose dauerte es vier Monate. Ich konnte damals den Namen der Krankheit nicht einmal richtig aussprechen. Was ich als besonders schlimm empfunden habe, war, dass nach der Epilepsie wieder eine Krankheit auftrat. Ich habe mich in dieser Zeit oft mit meiner Mutter gezankt und rebelliert. Sie hatte viele gut gemeinte Ratschläge für mich. Aber ich kämpfte gegen alles an, ich rauchte, schlug mir die Nächte um die Ohren…
… wie die gesunden Gleichaltrigen…
Ja, dann eines Tages begann ich still und heimlich, die Informationsbroschüren über MS zu lesen, die ich vom Krankenhausaufenthalt noch hatte. So begann ich aus eigenem Antrieb, mich mit der Erkrankung auseinanderzusetzen. Ich fing auch an, mit anderen darüber zu reden. Zum Beispiel in der Schule, wo ich ein Referat über MS hielt. Ich konnte dann relativ schnell die Krankheit annehmen.
Hat sich durch die neue Sichtweise etwas verändert?
Ich habe für mich herausgefunden: jetzt hast du eine Diagnose, aber das heißt nicht, dass du im nächsten Jahr bereits im Rollstuhl sitzt.
Das Bild vom Rollstuhl scheint für viele MS-Patienten ein Schreckgespenst zu sein.
Am Anfang ja. Jetzt, nach all den Jahren als Patientin, denke ich überhaupt nicht mehr daran. Ich weiß nun, dass es bei MS viele unterschiedliche Verlaufsformen gibt. Wie es bei mir einmal aussieht, kann man nicht vorhersagen.
Hat Sie die Krankheit von irgendetwas abgehalten?
Ja, vom Bungee Jumpen (lacht). Sonst ließ ich mich nicht beeinträchtigen. Ich machte die Matura, studierte ein paar Semester Biologie und arbeitete in der Freizeit bereits regelmäßig. Allerdings hat mir die Arbeit immer mehr Spaß gemacht, und so brach ich letztendlich das Studium ab und machte meinen Studentenjob mit einer späten Lehre zum Hauptberuf, im Dutyfree am Flughafen Salzburg. Dort arbeite ich seit 15 Jahren im Schichtdienst, was bereits für Gesunde nicht ganz einfach ist.
Gab es jemals wegen der Erkrankung Probleme im Job?
Nein, noch nie. Im Gegenteil, die Firma kam mir immer sehr entgegen. Ich glaube, es war gut, dass ich mit offenen Karten gespielt und die Krankheit nicht verschwiegen habe. Wenn ich einen Schub hatte, war es noch nie ein Problem für zwei oder drei Wochen in den Krankenstand zu gehen.
Wie macht sich die Krankheit bei Ihnen bemerkbar?
Ich bin oft sehr müde, matt, richtig erschlagen. Wenn ich dann die Möglichkeit habe, mich hinzulegen, genügen 20 bis 30 Minuten, bis ich wieder erholt bin. Wenn es wie im vergangenen Sommer sehr heiß ist, ist auch die Müdigkeit wesentlich stärker ausgeprägt. Zudem habe ich Probleme mit dem Gleichgewicht, bin unsicher beim Gehen. An schlechten Tagen habe ich Probleme mit dem Greifen. Ein Außenstehender würde vielleicht sagen: Die ist ungeschickt.
Was genau passiert bei einem Schub?
Ich leide in erster Linie unter massivem Schwindel. Der steigert sich, es genügt eine kleine Kopfbewegung und ich muss erbrechen. Einige Schübe traten auch in Form einer Entzündung des Sehnervs auf. Als Akutmedikament bekam ich über fünf Tage Infusionen mit hochdosiertem Kortison. Dann ist vor allem viel Ruhe nötig. In dieser Zeit kann ich mich zu meinen Eltern zurückzuziehen, denn in dieser Phase ist es mir als Alleinstehende nicht möglich, mich selbst zu versorgen. Der letzte Schub war vor drei Jahren.
Wie sieht es in puncto Lebensstil aus?
Ich versuche mich ausgewogen zu ernähren, gehe regelmäßig ins Fitnessstudio. Dort stärke ich nach einem Bandscheibenvorfall meine Rückenmuskulatur. Es geht mir dadurch generell viel besser, auch mein Gleichgewichtsgefühl hat sich dadurch gebessert.
Möchten Sie einmal eine Familie gründen, Kinder kriegen?
Das ist derzeit kein Thema. Aber das hat andere Gründe, das liegt ganz sicher nicht an der MS.
Was liegt Ihnen besonders am Herzen?
Dass man sich durch die Krankheit nicht einschränken lassen soll, dass man im Rahmen seiner Möglichkeiten all die Dinge macht, die man machen will. Und dass vor allem Arbeitgeber Toleranz aufbringen gegenüber Menschen, die nicht zu 100 Prozent gesund sind. Das sind ohnehin die wenigsten. Der eine hat Heuschnupfen, der andere hat Diabetes, der nächste eben Multiple Sklerose.
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Bei MS gibt es sehr unterschiedliche Verläufe. Folgende Symptome können, müssen aber nicht auftreten:
Gehirn
* Kognitive Störungen
* Psychische Störungen
* Müdigkeit
Sehnerv
* Verschwommenes Sehen
* Blindheit
Kleinhirn & Hirnstamm
* Doppelbilder
* Schwindel
* Störungen beim Sprechen, Schlucken, Hören
* Zittern, Bewegungsstörungen
* Koordinationsstörungen
Rückenmark
* Spastik, Lähmungen, Gangstörungen
* Blasen- und Darmstörungen
* Sexuelle Funktionsstörungen
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