Eine Verdauung, die ohne „handfeste“ organische Ursachen verrücktspielt – wer unter einem Reizdarm leidet, ist in vielerlei Hinsicht belastet.
von Mag. Sylvia Neubauer
Ich neige in der Arbeit dazu, nicht mehr zu essen – aus Angst davor, Durchfall zu bekommen“, berichtet Hermann P. Ähnlich ergeht es Sonja F: „Wenn ich etwas Falsches esse, sehe ich wie hochschwanger aus – so als müsse man mich festbinden, damit ich nicht abhebe.“
Nicht allen Betroffenen ist nach Selbstironie zumute. Viele von ihnen blicken auf einen langen Leidensweg zurück: „Meine Verdauungsbeschwerden diktieren meinen Alltag. Ich fürchte mich davor, meine Blähungen in der Öffentlichkeit nicht zurückhalten zu können. Deshalb habe ich mich von meinem Freundeskreis zurückgezogen“, schildert Melanie M. ihre Krankheitsgeschichte.
Obwohl das Reizdarmsyndrom viele Gesichter hat, ist nahezu allen Betroffenen eines gemein: „Sie klagen häufig über Bauchschmerzen, die diffus, krampfartig oder dumpf sein können und länger als sechs Monate anhalten“, beschreibt Univ. Prof. Dr. Gabriele Moser, Leiterin der Ambulanz und wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für gastroenterologische Psychosomatik an der Univ.-Klinik für Innere Medizin III der Medizinischen Universität Wien, die Hauptsymptome.
Der Reizdarm zählt zu den häufigsten Funktionsstörungen des Magen-Darm-Trakts und äußert sich durch Bauchschmerzen, Blähungen und/oder Völlegefühle.
Häufige Alarmsymptome
Zudem können Stuhlunregelmäßigkeiten, Durchfälle und Verstopfung vorkommen. Bei einigen Patienten treten die Symptome vermehrt nach dem Essen auf und bessern sich nach dem Stuhlgang. Akute Symptome, die von Gewichtsverlust, Fieber, Blutarmut, Erbrechen, Gelenkbeschwerden oder Blutbeimengungen im Stuhl begleitet werden, erfordern einen ehestmöglichen Arztbesuch.
Grundsätzlich sollten aber alle unklaren Bauchbeschwerden durch eine Laboruntersuchung und – falls medizinisch erforderlich – durch eine Stuhluntersuchung und eine Darmspiegelung abgeklärt werden. Es gilt, andere Krankheiten wie chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Zöliakie) sowie Schilddrüsenerkrankungen als Ursache auszuschließen. „Nahrungsmittelintoleranzen oder Allergien können parallel bestehen und sollten ebenfalls diagnostisch abgeklärt werden“, so Moser.
Auch eine bakterielle Fehlbesiedelung des Dünndarms – kurz SIBO genannt – kann einen schmerzenden Blähbauch verursachen. Konkret versteht man darunter „eine Überwucherung des an sich keimarmen Dünndarms mit zu vielen Bakterien, welche in hoher Anzahl eigentlich nur im Dickdarm vorherrschen“, beschreibt die Medizinerin die oft übersehene, mit Antibiotika gut behandelbare Erkrankung.
Infektionen und Stress
Als Auslöser des Reizdarmsyndroms werden unter anderem bakterielle oder virale Infektionen des Magen- und Darmtrakts, Antibiotikabehandlungen, Umwelteinflüsse sowie Stressbelastungen angenommen, die zu Überempfindlichkeiten und abnormalen Darmbewegungen (Motilitätsstörung) führen.
In vielen Fällen liegt dem Reizdarm ein ganzes Ursachengeflecht zugrunde: So kann ein Magen-Darm-Infekt in Kombination mit Stress den Darm ganz im wörtlichen Sinne reizen. Überhaupt scheint die Psyche in puncto Beschwerdeproblematik eine entscheidende Rolle zu spielen. Das zentrale Nervensystem und das Darmnervensystem stehen über Botenstoffe in engem Austausch miteinander. „Menschen, die massiv gestresst sind oder traumatisiert wurden, können über diese sogenannte Darm-Hirn-Achse einen Reizdarm entwickeln“, spricht Moser über die Auswirkungen eines zu „mitteilsamen“ Bauchhirns.
Umgekehrt finden sich bei „Reizdarmpatienten häufiger psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen“, so die Fachärztin für Innere Medizin und Psychotherapeutin.
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Individuelle Behandlungsansätze
Frei nach dem Motto „Reizdarm hat man, wenn man nichts hat“, bekommen Betroffene häufig zu hören: „Das ist doch alles nur psychisch – Ihnen fehlt eigentlich gar nichts“. Frustrierend für die Betroffenen, die sich ihre Symptome nicht nur einbilden.
Die gute Nachricht: Zum einen treten die Beschwerden bei einigen Menschen nur in bestimmten Lebensphasen auf und verlieren sich manchmal mit der Zeit wieder, zum anderen gibt es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten:
Verstopfung: Körperliche Bewegung sowie eine reichliche Flüssigkeitszufuhr bilden die Basis, um einen trägen Darm in Schwung zu bringen. Unterstützend können natürliche Verdauungshilfen wie Flohsamenschalen oder Leinsamen helfen bzw. rezeptfreie Medikamente.
Durchfall: Pflanzliche Hausmittel wie geriebener Apfel, getrocknete Heidelbeeren und Brombeerblätter wirken stopfend. In schwarzem Tee und Eichenrindentee enthaltene Gerbstoffe hemmen Entzündungsprozesse.
Blähungen: Bei erwachsenen Menschen sind bis zu 20 Winde (Flatulenzen) pro Tag als normal einzustufen. Treten diese häufiger auf und /oder gehen mit Schmerzen einher, verbirgt sich oft eine Nahrungsmittelunverträglichkeit oder ein Reizdarm dahinter. Vielen Betroffenen hilft Wärme.
Auch pflanzliche Mittel wie Kümmel, Fenchel oder Anis lindern Blähungen. Kurkuma, auch Gelbwurz genannt, ist vor allem als Gewürz bekannt: und zwar als Curry. Die Pflanze hilft besonders bei Verdauungsbeschwerden. Der Pflanzenstoff Curcumin regt unter anderem die Leber dazu an, mehr Gallensäure auszuschütten. Fette werden besser verdaut, Blähungen und Völlegefühl gemildert.
Entschäumende Medikamente zerstören die Schleimschicht um Gasblasen und erleichtern so das Entweichen des Gases. Ähnliches gilt für magensaftresistente Pfefferminzölkapseln. Der Bestandteil Menthol – ein ätherisches Öl – verringert den Einstrom von Kalzium in die Muskelzellen, wodurch sich die verkrampfte Darm-Muskulatur beruhigen kann.
Sodbrennen: Obwohl Sodbrennen als eigenständige (Reflux-)Krankheit definiert ist, leiden viele mit Reizdarmsyndrom gleichzeitig unter saurem Aufstoßen und brennenden Schmerzen hinter dem Brustbein. Außer mit entzündungshemmenden Tees mit Kamille und Spitzwegerich kann das unangenehme Brennen auch durch die bloße Aufnahme von größeren Flüssigkeitsmengen gelindert werden, da die Magensäure so etwas verdünnt wird. Säurehemmende Medikamente sollten nur nach Absprache mit dem Arzt eingenommen werden.
Antidepressiva: Bei manchen Betroffenen führen Gasansammlungen, die Druck auf die Darmwand ausüben und den Darm dehnen, zu Schmerzen, während Gesunde gar nichts davon bemerken. Antidepressiva heben diese niedrige Schmerzschwelle an: „Sie wirken nicht nur auf die Psyche, sondern auch auf den Magen-Darm-Trakt“, erklärt Moser das Prinzip hinter dieser Schmerzmedikation, das bei etwa fünf Prozent der Betroffenen Erfolg verspricht: „Antidepressiva haben Einfluss auf die Beweglichkeit und die Empfindsamkeit des Verdauungstraktes“, so die Medizinerin.
Psychotherapie: „Wenn eine Person schon länger mit Beschwerden kämpft und wiederholt Medikamente gegen einzelne Symptome wie Durchfall, Verstopfung und Schmerzen benötigt, müssen Maßnahmen ergriffen werden, die den gesamten Körper inklusive Psyche unterstützen“, macht Moser auf die Bedeutsamkeit einer begleitenden psychotherapeutischen Behandlung aufmerksam, welche sich beruhigend auf die gestörte Kommunikation zwischen Kopf- und Bauchhirn auswirkt.
Bauchhypnose: Die Bauchhypnose macht sich diese Darm-Hirn-Achse zu Nutze: So wird beispielsweise die Darmaktivität mit Bildern verbunden – etwa die Vorstellung vom Fließen eines Baches wird in Verbindung mit der sanften, rhythmischen Aktivität des Magen-Darm-Traktes gebracht. In einer Studie sprachen 70 Prozent der Patienten gut auf diese Therapieform an.
Moser: „Die Hypnose ist auch in Gruppensitzungen, selbst bei Patienten, die auf andere Therapien nicht ansprechen, wirkungsvoll.“ Oft reicht bereits eine Kurztherapie aus. Konkret bedarf es dazu „zehn Sitzungen, die jede Woche maximal eine Stunde in Anspruch nehmen“, nennt die Fachärztin die relativ kurze Behandlungsdauer von nur drei Monaten als großen Vorteil.
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Reizdarm – was essen?
Wiederkehrende Beschwerden lassen Reizdarm-Patienten an ihrem Speiseplan oft verzweifeln – viele wissen nicht mehr, was sie noch essen können oder sollen. Petra Eberharter verrät, wie sich ein „zwickender Bauch“ kulinarisch besänftigen lässt. Die Diätologin spricht über …
… FODMAP-Diät – was ist das eigentlich?
FODMAPs sind bestimmte Kohlenhydrate und Zuckeralkohole, die von Natur aus in vielen Nahrungsmitteln enthalten sind. Sie sind Bestandteil einer gesunden Ernährung und grundsätzlich nicht schädlich. Für Menschen mit Reizdarmsyndrom sind die verschiedenen Kohlenhydratbestandteile jedoch nur schwer oder nicht verdaulich. Eine FODMAP-reduzierte Ernährung kann dem entgegenwirken.
… FODMAP – wofür steht die Abkürzung?
FO steht für fermentierte Oligosaccharide, die unter anderem in Getreideprodukten wie Weizen, Dinkel und Roggen, aber auch in vielen Gemüsesorten wie Knoblauch und Zwiebeln oder in Sojadrinks enthalten sind.
D steht für Disaccharide, für den Zweifachzucker. Dieser Milchzucker (Lactose) steckt in Milchprodukten wie Kuh-, Ziegen-, Schaf- oder Büffelmilch.
M steht für Monosaccharide, also Einfachzucker. Fruchtzucker-(Fructose-)haltige Lebensmittel sind zum Beispiel Wassermelone, Spargel, Topinambur und Honig sowie verschiedene Stein- und Kernobstsorten wie Äpfel, Birnen und Kirschen.
A steht für „and“,
P für Polyole, welche sogenannte Zuckeralkohole wie Sorbit, Mannit und Xylit umfassen. Sie werden häufig als Süßstoff in zuckerreduzierten oder zuckerfreien Lebensmitteln eingesetzt, kommen aber auch in verschiedenen Obst- und Gemüsesorten vor.
… die 3 Phasen der FODMAP-Diät:
- In der ersten Phase werden alle FODMAP-reichen Nahrungsmittel für vier bis acht Wochen gemieden und eine FODMAP-arme Ernährung durchgeführt.
- In der zweiten Phase wird gezielt getestet, welche FODMAP-Nahrungsmittel in welchen Mengen vertragen werden. Es gilt persönliche Beschwerdeauslöser zu ermitteln – konkret also Antworten auf folgende Fragen zu finden: Was vertrage ich individuell gut, auf welche Mengen muss ich achten, wann ist es für meinen Körper zu viel?
- Die dritte Phase beschreibt eine individuelle und gesunde Langzeit-Ernährung. Ziel ist es, die Beschwerden mit möglichst wenigen Nahrungseinschränkungen langfristig einzudämmen.
… Trigger, also Lebensmittel, welche Reizdarmbeschwerden fördern können:
Neben den FODMAPs gibt es sogenannte Trigger, welche die Symptomatik verstärken können. Hierzu zählen vor allem Alkohol, Koffein, Nikotin sowie die Ernährungsweise und das Essverhalten, aber auch Stress. Bei der Ernährungserhebung wird beispielsweise erfragt:
- Wie viel Kaffee konsumiert der Betroffene?
- Sind sehr viele fettige/scharfe Speisen in seiner Ernährung enthalten?
- Wie viel Alkohol wird konsumiert?
- Wird geraucht oder nicht?
- Wie schnell und wie üppig wird gegessen?
- Wie groß sind die Portionen?
All diese Faktoren können auf der Suche nach individuellen Auslösern im Zuge einer diätologischen Beratung berücksichtigt werden.
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