Ob akut oder chronisch – Schmerz lässt sich besser bewältigen, wenn Betroffene selbst aktiv werden. Eine multimodale Therapie hilft, die Schmerzspirale zu unterbrechen und neue Perspektiven zu gewinnen.
Von Natascha Gazzari
„Jeder Mensch hat seinen eigenen Schmerz. Selbst bei der gleichen Erkrankung ist der Schmerz immer individuell.“
Wir alle kennen ihn und doch ist er für jeden von uns völlig individuell: Schmerz ist ein komplexes Phänomen, das weit über ein körperliches Warnsignal hinausgeht. Im Gegensatz zu anderen Sinneswahrnehmungen, wie Hören oder Sehen, entsteht Schmerz nicht nur durch Reizung von „Schmerzfühlern“ – den sogenannten Nozizeptoren –, sondern wird maßgeblich durch das Gehirn moduliert. Verschiedene Hirnareale verarbeiten die eingehenden Signale und bewerten sie emotional. Deshalb empfindet jeder Mensch Schmerzen anders, wie Dr. Michael Kern, Geschäftsführender Oberarzt und Leiter der Schmerzambulanz im Krankenhaus der Elisabethinen Graz, berichtet: „Jeder Mensch hat seinen eigenen Schmerz. Selbst bei der gleichen Erkrankung ist der Schmerz immer individuell.“ Diese subjektive Komponente erklärt, warum Schmerzen auch ohne erkennbare körperliche Ursache bestehen können. „Es muss gar nichts kaputt sein, um Schmerzen haben zu können. Menschen, die trotz fehlender Diagnose unter Schmerzen leiden, fühlen sich oft nicht verstanden.“ Schmerz geht also weit über die rein körperliche Komponente hinaus. Expertinnen und Experten sprechen heute vom biopsychosozialen Schmerzmodell, das die Wechselwirkung zwischen körperlichen, seelischen und sozialen Faktoren berücksichtigt.
Wenn’s plötzlich weh tut
Akute Schmerzen, etwa bei einer Verletzung oder Entzündung, sind eine sinnvolle Reaktion des Körpers und erfüllen eine wichtige Schutzfunktion, wie Kern erläutert: „Sie zwingen uns zur Schonung, bis es wieder besser wird.“ Gleichzeitig lösen sie oft negative Gefühle wie Angst oder Hilflosigkeit aus, die jedoch durch bestimmte Botenstoffe, wie zum Beispiel körpereigenes Morphin, abgemildert werden können. Akute Schmerzen klingen in der Regel von selbst ab, wenn der Auslöser geheilt oder beseitigt worden ist. Bei Bedarf können medikamentöse oder physikalische Therapien dabei helfen, akute Schmerzen in den Griff zu bekommen. Bei rezeptfrei erhältlichen Schmerzmitteln ist Vorsicht geboten: Sie sind nur zur kurzzeitigen Einnahme gedacht und sollten immer mit anderen erforderlichen Medikamenten abgestimmt werden, um das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen zu reduzieren. Problematisch wird es, wenn akute Schmerzen nicht ausreichend behandelt werden – sie können dann in chronische Schmerzen übergehen, die ihre ursprüngliche Warnfunktion verloren haben.
Schmerz ohne Ende
Von chronischen Schmerzen spricht man, wenn sie länger als drei bis sechs Monate bestehen und die Lebensqualität deutlich beeinträchtigen. Chronische Schmerzen sind weit verbreitet, weiß der Schmerzspezialist: „Wir gehen davon aus, dass drei bis vier Prozent der Bevölkerung an behandlungspflichtigen Schmerzen leiden. Am häufigsten sind Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule, gefolgt von Kopfschmerzen.“ Auch Nervenschmerzen, etwa infolge von Operationen, Verletzungen, Krebserkrankungen oder Stoffwechselerkrankungen, sowie dem Fibromyalgie-Syndrom, können dauerhaft zu einer verminderten Lebensqualität führen. Anders als akute Schmerzen sind chronische Schmerzen keine Folge einer aktuellen Gewebeschädigung, sondern resultieren aus komplexen Veränderungen im Nervensystem. Ein zentraler Mechanismus ist dabei das sogenannte „Schmerzgedächtnis“: Durch anhaltende Schmerzreize werden Nervenzellen im Rückenmark und Gehirn überempfindlich. Sie reagieren dann bereits auf leichte Reize mit Schmerzsignalen – selbst, wenn die ursprüngliche Ursache längst abgeheilt ist. „Vereinfacht formuliert könnte man sagen, dass sich ein einmal erlebter Schmerz ins Gehirn einbrennt und der Schmerz dadurch an Wichtigkeit gewinnt.“
Diese Sensibilisierung wird durch psychosoziale Faktoren verstärkt: Negative Gedanken wie „Ich werde den Schmerz nie wieder los“, Stress, soziale Isolation oder depressive Verstimmungen können den Teufelskreis aufrechterhalten. Gleichzeitig führt Schonverhalten zu Muskelabbau und Verspannungen, die die Schmerzen weiter verschlimmern. Selbst die Art und Weise, wie das nähere Umfeld, zum Beispiel Familie und Partner, auf das Schmerzverhalten reagiert, kann das individuelle Schmerzerleben positiv oder negativ beeinflussen.
Besonders problematisch ist, dass viele Betroffene lange Zeit keine adäquate Behandlung erhalten, weil keine sichtbare körperliche Ursache gefunden wird. „Je chronischer Schmerz wird, desto weniger kann man mit einer rein medikamentösen Therapie erreichen. Dann braucht es andere Methoden, um den Schmerz in den Griff zu bekommen“, erklärt Kern.
Therapie auf vielen Ebenen
Chronische Schmerzen sind mehr als ein rein körperliches Symptom: Sie beeinflussen die Psyche, das soziale Leben und die Lebensqualität insgesamt und erfordern eine umfassende Behandlung. Die multimodale Therapie setzt genau hier an, indem sie körperliche, psychische und soziale Aspekte gleichermaßen berücksichtigt. Diese Therapieform, bei der Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen zusammenarbeiten, um ein maßgeschneidertes Behandlungskonzept zu entwickeln, gilt als Goldstandard in der Schmerztherapie. Der gezielte Einsatz von Medikamenten wird mit Physiotherapie, Bewegungstraining, Entspannungstechniken und psychologischer Therapie kombiniert. Ein entscheidendes Element der multimodalen Schmerztherapie ist die Bewegung, denn Schonung bringt bei chronischen Schmerzen mehr Schaden als Nutzen: „Wir müssen die Menschen dazu motivieren, wieder aktiv zu werden. Der menschliche Körper ist für Bewegung gemacht. Wichtig ist es, für jeden Schmerzpatienten das richtige Ausmaß und die richtige Art von Bewegung zu finden.“ Leidet man etwa unter Rückenschmerzen, beschränkt sich das Trainingsprogramm nicht auf die Rückenmuskulatur, sondern schließt auch die Bauchmuskulatur als Gegenspieler der Rückenmuskulatur ein. Physiotherapie und Bewegungstraining, etwa in Form von Rückenschule oder Muskelaufbau, können dabei helfen, Bewegungsabläufe zu verbessern oder wiederherzustellen und folglich die Schmerzen zu reduzieren. Ein weiterer wichtiger Baustein der multimodalen Therapie sind Entspannungstechniken wie Achtsamkeitstraining oder progressive Muskelentspannung. Im Rahmen der sogenannten „Edukation“ lernen Betroffene zu verstehen, wie der Schmerz entsteht, was beim Schmerz auf körperlicher und psychischer Ebene passiert und was sie selbst zum Therapieerfolg beitragen können. In der Schmerzambulanz der Elisabethinen Graz können Betroffene in speziellen Schmerz-Workshops ein besseres Verständnis für ihre Erkrankung entwickeln und Strategien erlernen, die ihnen den Alltag erleichtern.
Auch alternative Behandlungsmethoden haben in der Schmerztherapie ihre Berechtigung: „Wir betrachten den Menschen immer als Ganzheit und setzen zum Beispiel Ohrakupunktur zur Schmerzbehandlung ein. Bei anderen alternativen Heilverfahren muss man schauen, wie es einem persönlich damit geht. Man sollte jedoch immer bedenken, dass auch vermeintlich harmlose Mittel im Prinzip chemische Substanzen sind, die Nebenwirkungen haben können.“
Aktives Mitwirken entscheidend
Der Erfolg einer Schmerztherapie hängt maßgeblich vom Engagement der Betroffenen ab. Das beginnt bereits beim Definieren des Therapieziels, wie der Schmerzspezialist erläutert: „Es ist wichtig, sich realistische Ziele zu setzen. Natürlich wünschen sich die Betroffenen absolute Schmerzfreiheit. Besser ist es jedoch, Ziele festzulegen, an denen man sieht, dass es wieder besser wird und die wieder eine aktive Teilnahme am Leben ermöglichen.“ Die aktive Mitarbeit im Behandlungsprozess und ein reger Austausch zwischen Schmerzpatientin, Schmerzpatient und Medizinerin, Mediziner sind laut Kern das A und O einer erfolgreichen Therapie. „Um eine Wirkung zu erzielen, muss die Therapie für beide Seiten passen. Ohne die aktive Mitarbeit des Patienten ist jeder Schmerztherapeut hilflos.“
Fotos: istockphoto/ aleksej sarifulin, Elke Müller