Der moderne Lebensstil zieht eine weitere, bislang kaum beachtete Folge nach sich: Verletzungen der Sehnen sind auf dem Vormarsch, wie Unfallchirurgen warnen. Warum die Bindeglieder zwischen Muskeln und Knochen immer häufiger Probleme machen, und wie man sich davor schützen kann.
Von Mag. Sabine Stehrer
Sie verbinden Muskeln mit den Knochen, halten Muskelbäuche zusammen und verknüpfen Muskeln mit dem Bindegewebe: die Sehnen. Wie viele wir davon haben, weiß man nicht genau. „Es werden wohl weit über 1000 sein“, schätzt Prim. Dr. Andreas Pachucki, Leiter der Unfallchirurgie und Sporttraumatologie am Klinikum Mostviertel in Amstetten. Von den meisten der vielen seilähnlichen Bindeglieder bemerken Herr und Frau Österreicher ihr Leben lang nichts. Einige von ihnen machen hierzulande jedoch immer häufiger Probleme, haben Pachucki und seine Kollegen in der Österreichischen Gesellschaft für Unfallchirurgie festgestellt: allen voran die längsten und dicksten Sehnen, die zugleich jene sind, die wir am stärksten belasten. Pachucki: „Das sind die Achillessehne am Fuß, die Quadrizeps- und Patellasehne oberhalb und unterhalb der Kniescheibe sowie die untere Bizepssehne am Oberarm.“ Darüber hinaus werden auch die Sehnen und Sehnenscheiden des Handgelenks immer häufiger behandlungsbedürftig – vorrangig bei Menschen, die viel am Computer arbeiten. Wie erklärt sich der Trend zu den vermehrten Reizungen, Zerrungen und Rissen dieser Bestandteile unseres Bewegungsapparats?
Bewegungsmangel als Wurzel des Übels
Nach den Erfahrungen Pachuckis ist der moderne Lebensstil schuld daran, dass heute immer mehr Menschen mit Schäden an den Sehnen zu kämpfen haben. Wie jüngste Erkenntnisse zeigen, zählt der verbreitete Bewegungsmangel in der Kindheit dazu. „Bei Kindern, die sich zu wenig bewegen, bilden sich der Sehnenkern und die Sehnenfasern, die aus Kollagen, einer eiweißähnlichen Substanz bestehen, nicht richtig aus, und das erhöht das Risiko für spätere Sehnenschäden“, erklärt Andreas Pachucki den Hintergrund. Wird auch in der Jugend und im jungen Erwachsenenleben nicht regelmäßig Sport betrieben, so werden die wichtigen Bindeglieder in dieser Zeit stets unzulänglich mit Nährstoffen versorgt. Und das macht sie bereits ab dem 30. Lebensjahr anfällig für Probleme.
Übergewicht setzt noch eins drauf
Das Leben als Bewegungsmuffel zieht meist noch einen weiteren ungesunden Lebensstilfaktor nach sich: Übergewicht. Und die überschüssigen Kilos stellen laut Pachucki zumindest für die Achillessehnen an den Füßen und die Quadrizeps- und Patellasehnen an den Knien eine zusätzliche Belastung dar. „Werden die Sehnen permanent durch Übergewicht oder andere Überlastungen strapaziert, und sind sie noch dazu durch Bewegungsmangel und eine damit einhergehende mangelnde Versorgung mitgenommen, bilden sich zunächst oft Reizungen“, beschreibt der Mediziner die Wurzel des Übels. Diese Reizungen bzw. Entzündungen lassen Kalkeinlagerungen in den Sehnenfasern und im Sehnenkern zurück. Der Kalk nimmt den Sehnen ihre Elastizität und schränkt ihre Belastungsfähigkeit ein. So kann selbst die Achillessehne als längste und dickste Sehne des Körpers, die normalerweise einer Zugbelastung von rund 800 Kilogramm standhält, nach einigen Reizungen so vorgeschädigt sein, dass sie es zu Zerrungen und Rissen kommt. Pachucki: „Diese Sehnenverletzungen entstehen meistens bei plötzlichen Fehlbelastungen, aber auch bei ungewohnten Belastungen oder länger andauernden Überlastungen.“
Kühlung, Salben, Schonung
Welche Sehne auch verletzt wurde: Im Akutfall lässt sich der Schmerz mit kühlen Auflagen lindern. Doch man sollte so bald wie möglich zum Arzt, um abklären zu lassen, wie ausgeprägt der Schaden ist, rät Pachucki. „Das geschieht durch Betasten der Sehne, geführte Bewegungen und bildgebende Verfahren, meist durch Magnetresonanztomografie.“ Ist die Sehne nur gereizt, helfen entzündungshemmende Salben und Schonung der betroffenen Sehne bzw. des Fußes, des Knies, Arms oder der Hand. Bis die schmerzhafte Entzündung abklingt, kann einige Zeit vergehen: Mit bis zu sechs Wochen ist durchaus zu rechnen, so Pachucki. Manchmal können eine Stoßwellentherapie oder – wie sich in den vergangenen Jahren zeigte – Bestrahlungen mit gepulstem kaltem Rotlicht die Zeit des Leidens verkürzen.
OP nach Riss mit grosser Lücke
Zerrungen und Risse, auch der Achillessehne, die eine Lücke von weniger als einem Zentimeter Länge hinterlassen haben, heilen meist ohne Operation ab. „Sehnenfasern haben die Fähigkeit, sich nachbilden und derartige Defekte überbrücken zu können“, erklärt Experte Pachucki. Nur wenn nach einem Riss eine mehrere Zentimeter große Lücke zwischen den Sehnenenden klafft, wird es nicht von selber wieder gut – dann muss operiert werden. Da die Narbe, die von dem Eingriff zurückbleibt, das Risiko für neuerliche Sehnenrisse erhöht, rät Pachucki, in einer Physiotherapie spezielle Übungen zu erlernen, die dazu dienen, die Sehne gesund zu erhalten.
Vorsichtig sein und nicht dehnen
Was man selbst tun kann, um von Sehnenproblemen verschont zu bleiben? Neben Bewegung von Kindesbeinen an und dem Vermeiden von Übergewicht lassen sich Sehnenschäden vor allem durch Achtsamkeit vorbeugen. Pachucki: „Bei ungewohnten Beanspruchungen und langandauernden Belastungen sollte man besonders vorsichtig sein.“ Außerdem gilt: Bei neuen Sportarten, die man betreiben möchte, oder Intensivierungen, die man plant, sollte man es langsam angehen. „So haben die Sehnen Zeit, sich an die Belastung zu gewöhnen, und das reduziert das Risiko für Verletzungen“, informiert Andreas Pachucki. Vor dem Sport oder anderen Beanspruchungen die Sehnen zu dehnen, bringe entgegen der landläufigen Meinung nichts, sondern erhöhe sogar die Verletzungsgefahr, „da die Sehnen in kaltem Zustand anfälliger für Zerrungen und Risse sind“. Und Dehnen nach dem Sport sei laut dem Mediziner zwar nicht gefährlich, habe aber auch keine positive Auswirkung auf die Sehnengesundheit.
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Verletzte Sehnen:
Wie es meistens passiert
Achillessehne
„Ein Vater mittleren Alters, der etwas übergewichtig ist und schon länger keinen Sport mehr betrieben hat, lässt sich am Wochenende dazu überreden, mit seinem Sohn Fußball zu spielen“, schildert Unfallchirurg Prim. Dr. Andreas Pachucki vom Klinikum Mostviertel in Amstetten den typischen Weg zum Achillessehnenriss. „Der ehrgeizige Herr Papa tritt den Ball etwas fester an, hört einen Knall, spürt einen heftigen Schmerz und kann mit dem Fuß nicht mehr auftreten.“
Kniesehnen
Das Paradebeispiel dafür, wie Schäden der Quadrizeps- bzw. Patellasehnen rund um das Kniegelenk entstehen, ist laut Pachucki „die Mittdreißigerin, die in Anbetracht des herannahenden Sommers etwas für ihre Bikinifigur tun möchte und damit beginnt, jeden zweiten Tag zehn Kilometer zu laufen“. Zwei Wochen später hat sie Schmerzen unterhalb der Kniescheibe – ein klassischer Überlastungsschaden einer untrainierten Sehne –, und stellt das Jogging wieder ein.
Oberarmsehne
Auch für Zerrungen und Risse der unteren Bizepssehne am Oberarm gibt es ein Musterbeispiel: Den Endvierziger, der nicht an schwere Arbeit gewohnt ist, hilft einem Freund beim Umzug und versucht, eine Truhe allein die Stiegen hinaufzutragen. Plötzlich schießt ein stechender Schmerz in seinen Oberarm – die Bizepssehne spielt nicht mehr mit. Ist sie gezerrt oder gerissen, ist überhaupt Schluss mit dem Freundschaftsdienst, da der Arm dann nicht einmal mehr angehoben werden kann.
Handgelenkssehnen
Schäden an den Sehnen des Handgelenks entstehen vorrangig bei der Arbeit am Computer. Die typische Kandidatin ist laut Andreas Pachucki die Sekretärin, die hauptsächlich mit Schreibarbeiten beschäftigt ist. Das Tippen auf der Tastatur und das Klicken mit der Computermaus überlasten die Bindeglieder, oft auch die Sehnenscheiden, in denen sie verlaufen, im Lauf der Zeit derart, dass sie sich entzünden. Zu Zerrungen und Rissen kommt es zwar kaum, doch der sogenannte Mausfinger, Mausarm oder Sehnenscheidenentzündungen sind ebenso weit verbreitete wie schmerzhafte Folgen der Überlastung.
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Körperwissen: Sehne oder Band?
So wie die Sehnen sind auch die Bänder faserartige Gewebsstränge aus der eiweißähnlichen Substanz Kollagen. Der Unterschied: Während Sehnen Muskeln mit Knochen, Muskelbäuche untereinander und Muskeln mit dem Bindegewebe verbinden, halten Bänder Knochen mit Knochen zusammen.
Foto: iStock, XH4D