Geschlechtsspezifische Unterschiede spielen in nahezu allen Bereichen der Medizin eine wichtige Rolle – auch und besonders in der Schmerzmedizin. Die sogenannte Gender Medicine hat sich in den letzten Jahren zu einer eigenständigen Fachrichtung entwickelt. Sie untersucht, wie biologische, hormonelle, psychologische und soziokulturelle Faktoren das Schmerzempfinden, die Verarbeitung von Schmerzen und die Wirksamkeit von Therapien beeinflussen.
Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede: Männer und Frauen empfinden, verarbeiten und kommunizieren Schmerzen oft unterschiedlich. Auch die Wirksamkeit, Verträglichkeit und notwendige Dosierung von Schmerzmedikamenten kann geschlechtsspezifisch variieren. Daher sind Epidemiologie, Symptomatik, Schmerzschwellen und Therapieergebnisse immer auch im Kontext des Geschlechts zu betrachten.
Unterschiede in der Epidemiologie
Einige Schmerzzustände treten ausschließlich oder überwiegend bei Frauen auf. Dazu zählen:
- Geburtsschmerz (über 95 % aller Frauen)
- Postpartale Schmerzsyndrome (bis zu 75 %)
- Menstruationsschmerzen (40–90 %)
- Gynäkologisch bedingte Unterbauchschmerzen
- Vulvodynie – chronische Schmerzen im Bereich der Vulva
Auch bei vielen vermeintlich „geschlechtsneutralen“ Schmerzsyndromen sind Frauen häufiger betroffen:
Fibromyalgie (4:1–7:1), Reizdarmsyndrom (bis 4:1), Migräne (2,5:1), Trigeminusneuralgie (2:1), Spannungskopfschmerz (1,5:1) sowie rheumatische Erkrankungen und chronische Rückenschmerzen (1,5:1).
Frauen leiden dabei im Durchschnitt nicht nur häufiger, sondern auch intensiver und länger unter Schmerzen. Hinzu kommt: Sie entwickeln öfter mehrere chronische Schmerzsyndrome gleichzeitig. Typische „atypische“ Symptomverläufe können die Diagnose erschweren und zu einer verzögerten oder unzureichenden Behandlung führen.
Hormonelle Einflüsse – etwa während Pubertät, Menstruationszyklus, Schwangerschaft und Postmenopause – wirken sich zusätzlich auf das Schmerzempfinden aus. Werden diese Faktoren nicht beachtet, droht eine Unterbehandlung.
Schmerzschwellen und -empfinden
Studien zeigen, dass Frauen in experimentellen und klinischen Tests auf Schmerzreize oft sensibler reagieren und somit niedrigere durchschnittliche Schmerzschwellen haben. Sie suchen auch häufiger medizinische Hilfe auf – dennoch werden ihre Schmerzen in der Praxis teilweise weniger ernst genommen.
Ein Beispiel: Bei Krebsschmerzen haben Frauen ein etwa 1,5-fach höheres Risiko für eine unzureichende Schmerzbehandlung als Männer. Ähnliche Tendenzen finden sich bei nicht-malignen Schmerzen ohne klare organische Ursache, die manchmal vorschnell psychologisiert werden.
Unterschiede in der Wirkung von Schmerzmedikamenten
Tierversuche mit Opioiden zeigten, dass männliche Tiere teilweise deutlich stärker ansprechen als weibliche. Bei starken Opioiden lag der Unterschied bei einer bis zu dreifachen Wirkung, bei schwachen sogar bei einem 90-fachen Unterschied.
Interessanterweise kamen klinische Studien beim Menschen zu teils gegenteiligen Ergebnissen: Frauen berichteten nach Operationen oft über eine bessere Schmerzlinderung durch Opioid-Analgetika als Männer. Diese Diskrepanz deutet darauf hin, dass geschlechtsspezifische Unterschiede im Opioid-Rezeptorsystem existieren, die jedoch komplex und möglicherweise von Spezies, Hormonstatus und weiteren Faktoren abhängen.
Auch bei nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) gibt es Hinweise auf geschlechtsspezifische Unterschiede in Wirkung und Nebenwirkungsprofil – ein Aspekt, der in der Praxis mehr Beachtung finden sollte.
Ursachen für die Unterschiede
Die Gründe für geschlechtsspezifische Unterschiede im Schmerzempfinden sind vielfältig:
- Biologische Faktoren: genetische Unterschiede, hormonelle Einflüsse, anatomische Strukturen
- Pharmakokinetische/-dynamische Unterschiede: unterschiedliche Wirkstoffaufnahme, -verteilung und -abbau
- Psychologische Faktoren: unterschiedliche Schmerzwahrnehmung, emotionale Verarbeitung
- Soziokulturelle Einflüsse: Rollenbilder, Erziehung, Umgang mit Schmerzen in der Gesellschaft
Eine einfache Erklärung wird es nicht geben. Wahrscheinlich ist ein Zusammenspiel aus körperlichen und psychosozialen Faktoren verantwortlich.
Fazit
Die geschlechtsspezifische Schmerzmedizin liefert wertvolle Hinweise für eine individuellere und wirksamere Schmerztherapie. Allerdings sind Frauen in vielen klinischen Studien nach wie vor unterrepräsentiert, was zu Wissenslücken führt. Künftige Forschung sollte gezielt auf geschlechtsspezifische Fragestellungen eingehen, um eine gerechtere, bedarfsgerechte und wirksamere Behandlung für beide Geschlechter sicherzustellen.
Literatur:
Musey et al. Gender Differences in Acute and Chronic Pain in the Emergency Department. Acad Emerg Med. 2014 Dec; 21(12): 1421–1430. Published online 2014 Nov 24. doi: 10.1111/acem.12529
Paller et al. Sex-Based Differences in Pain Perception and Treatment. Pain Med. 2009 Mar; 10(2): 289–299. Published online 2009 Jan 16. doi: 10.1111/j.1526-4637.2008.00558.x
Quelle: Geschlechtsspezifische Aspekte in der Schmerzmedizin – Sex matters. O. Univ.-Prof. DDr. Hans Georg Kress. MEDMIX 3/2008
Fotos: istock Inna Miller