Kinderkrankheiten

Gesunde Knochen von Anfang an

Was brauchen kindliche Knochen, um sich gesund und stark zu
entwickeln? Bei welchen Symptomen sollten Eltern hellhörig werden? Und warum treibt die fast vergessene Rachitis auch hierzulande wieder vermehrt ihr Unwesen?

Von: Natascha Gazzari 

Lebertran kennen die meisten von uns nur noch aus Erzählungen aus der Eltern oder Großeltern. An den grauslichen Geschmack aus Kindertagen erinnern sich viele bis heute. Warum Generationen von Kindern Lebertran verabreicht wurde, ist jedoch teilweise in Vergessenheit geraten. Was Lebertran so wertvoll für die Gesundheit von Kindern gemacht hat, war das darin reichlich vorkommende Vitamin D. Es gilt als Schlüsselvitamin für die Knochengesundheit. Ziel der Einnahme von Lebertran war es, die gefürchtete Rachitis zu verhindern, eine auch als „Knochenerweichung“ bekannte Störung des Knochenstoffwechsels. Vitamin D spielt eine entscheidende Rolle bei der Aufnahme von Kalzium und Phosphat im Körper. Diese Mineralstoffe wiederum sind wesentlich für die gesunde Entwicklung von Knochen, Muskeln und Bindegewebe. Was bei einer Rachitis im Knochen passiert, erklärt OA Dr. Gabriel Mindler, Facharzt für Orthopädie und Traumatologie, Leiter der Ambulanz für seltene Knochenerkrankungen an der Abteilung für Kinderorthopädie und Fußchirurgie am Orthopädischen Spital Speising: „Durch Vitamin-D-Mangel und eine ungenügende Mineralisation der Knochen kommt es zu Abweichungen im Bereich des Knochens und der Wachstumsfugen. Die Knochensubstanz ist geschwächt, sodass die Knochen weich und gekrümmt sein können.“ Charakteristische, sichtbare Zeichen einer Rachitis sind Beinverformungen wie O- oder X-Beine. Kinder mit Rachitis können jedoch auch unter langanhaltenden Knochenschmerzen leiden und langsamer als gesunde Kinder wachsen.

OA Dr. Gabriel Mindler „Einfache Vitamin-D-
Tropfen können so viel
verhindern.“

Zwei Tropfen täglich

Obwohl die Erkrankung in den westlichen Industrieländern seit Mitte des 20. Jahrhunderts quasi als ausgerottet galt, beobachten Experten wie OA Dr. Adalbert Raimann, Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde in der Ambulanz für pädiatrische Endokrinologie und Osteologie des AKH Wien, aktuell einen Anstieg der Rachitis-Fälle. Häufig betroffen sind Menschen aus eingewanderten Familien. „Dunkle Hauttypen, eine kulturell bedingte Bedeckung des Körpers sowie eine Kost, bei der auf Milchprodukte verzichtet wird, können ausschlaggebend sein“, berichtet Raimann. 

Zu den Risikofaktoren zählen laut Raimann neben einer unzureichenden Versorgung mit Vitamin D und Kalzium durch die Nahrung auch eingeschränkte Möglichkeiten des Körpers, Vitamin D selbst zu produzieren. Den Großteil des Vitamins kann der Körper nämlich selbst herstellen, allerdings nur dann, wenn er über längere Zeit der Sonne ausgesetzt ist. Wird die UV-Strahlung durch Kleidung oder Sonnenschutzprodukte von der Haut abgeschirmt, wird die körpereigene Vitaminproduktion gedrosselt. Eltern, die sich die Frage stellen, wie sich konsequenter Hautschutz und ausreichende Vitamin-D-Versorgung unter einen Hut bringen lassen, beruhigt Raimann: „Die Vorteile, die Sonnenschutz in Bezug auf die Vorbeugung von Hautkrebs mit sich bringt, überwiegen die Nachteile einer geringeren, aber meist ausreichenden Vitamin-D-Synthese. Keinesfalls sollte im Kindesalter ein Sonnenbrand in Kauf genommen werden, um das Vitamin D zu steigern.“ 

Umso wichtiger ist es, auf eine ausreichende Zufuhr von Vitamin D mit der Nahrung zu achten. Nennenswerte Mengen an Vitamin D sind in fettreichen Fischsorten wie Lachs, Hering und Makrele enthalten. Geringe Mengen liefern Eigelb, Butter, Rinderleber und Speisepilze wie Champignons und Eierschwammerl. Für Säuglinge ist eine tägliche Supplementierung von 400 bis 500 IE empfohlen. Bei einem gängigen Vitamin-D-Präparat, das von der Kinderärztin, vom Kinderarzt verordnet wird, reicht prinzipiell ein Tropfen täglich, um den Säugling mit der notwendigen Menge an Vitamin D zu versorgen. „Da die Gabe oftmals an einzelnen Tagen vergessen wird, hat sich die Gabe von zwei Tropfen täglich etabliert“, so Raimann. Diese tägliche Routine sollte bis zum zweiten erlebten Frühsommer durchgeführt werden. Ob und in welcher Dosierung Vitamin D auch nach dieser Zeit ergänzt werden sollte, hängt vom Lebensstil und von der Ernährung ab. Auch Krankheiten des Magen-Darm-Traktes, die dazu führen, dass Nährstoffe schlechter aufgenommen werden, können eine dauerhafte Ergänzung von Vitamin D erforderlich machen.

Bewusst ernähren und herumtoben

Das ebenfalls für die Knochengesundheit essenzielle Kalzium ist in tierischen Produkten wie Hartkäse, Milch und Joghurt enthalten, steckt jedoch auch in grünem Blattgemüse, Sesam, Mandeln oder Tofu. Wer sich vegan ernährt, sollte sich bezüglich Nährstoffversorgung von der Kinderärztin, vom Kinderarzt beraten lassen, um Defizite zu vermeiden: „Generell ist eine vegane Ernährung im Kindes- und Jugendalter aus gesundheitlichen Gründen nicht empfohlen“, ergänzt Kinderarzt Raimann.

Was Knochen neben Vitamin D und Kalzium brauchen, um sich gesund zu entwickeln, ist regelmäßige Bewegung. „Knochen müssen belastet werden, um gut gedeihen zu können“, weiß Kinderorthopäde Mindler. „Eltern sollten ihre Kinder motivieren, aktiv zu sein und unterschiedliche Arten der Bewegung im Alltag fördern.“

OA Dr. Adalbert Raimann
„Röntgen sowie einfache Laboruntersuchungen können helfen, die Diagnose Rachitis zu stellen.“

Worauf Eltern achten sollten

Ob ein Kind ausreichend mit Vitamin D versorgt ist, sieht man ihm leider nicht an der Nasenspitze an. Milde Mangelerscheinungen bleiben oft unerkannt, da sie keine offensichtlichen Beschwerden machen. „Zu den Symptomen eines Vitamin-D-Mangels bei Säuglingen gehören erhöhte Reizbarkeit, ein weiches Schädeldach und verzögertes Schließen der Fontanellen“, berichtet Kinderarzt Raimann. Häufig wird ein Vitamin-D-Mangel dann entdeckt, wenn Kinder mit dem Gehen beginnen. „Viele Kinder haben in dieser Lebensphase leichte O-Beine. Das ist zu einem gewissen Grad normal und wächst sich meist wieder aus. Hat ein Kind jedoch ausgeprägte oder zunehmende O-Beine oder hat es Schmerzen in den Beinen und vermeidet dadurch Bewegung, sollten Eltern hellhörig werden“, so der Rat von Kinderorthopäden Mindler. Erster Ansprechpartner ist die Kinderärztin bzw. der Kinderarzt, der einen möglichen Vitamin-D-Mangel mittels Blutabnahme abklären lassen kann und bei Bedarf eine entsprechende Ergänzung mit Vitamin-D-Tropfen verordnet.

Früherkennung ist wichtig

Verbessern sich die Beschwerden durch die Vitamin-D-Gabe nicht oder liegen bereits ausgeprägte Formveränderungen (Deformitäten) der Beine vor, sollte an eine kinderorthopädische Ambulanz überwiesen werden. Bei Verdacht auf eine Rachitis ist laut Raimann die Kombination aus Handwurzelröntgen und Blutabnahme sinnvoll. „Die wichtigsten Blutwerte sind Serum Kalzium, Phosphat, gesamt ALP, PTH und 250H-Vitamin D. Sie können teilweise sogar im Blut aus der Fingerbeere bestimmt werden und decken die wichtigsten Diagnosen ab“, erläutert der Experte. Wird bei einem Kind ein Vitamin-D-Mangel festgestellt, sollte immer die ganze Familie untersucht werden, denn, so Raimann: „Hat ein Familienmitglied einen Vitamin-D-Mangel, sind meist alle anderen Familienmitglieder auch betroffen.“ Stellt sich bei den Untersuchungen heraus, dass das Kind an Rachitis leidet, wird mit Vitamin D behandelt. In regelmäßigen Kontrollen wird beurteilt, wie gut die Behandlung anschlägt und wie sich die möglichen Deformitäten der Knochen bessern.

Kommt es trotz Therapie zu keiner Verbesserung oder liegen atypische Befunde vor, muss an seltenere Formen der Rachitis gedacht werden, die teils genetisch bedingt sind. Anlaufstellen sind dann Spezialzentren wie das „Vienna Bone and Growth Center (VBGC)“ im Orthopädischen Spital Speising, das Kindern mit seltenen Knochenerkrankungen eine multidisziplinäre Betreuung und Behandlung bietet. „Unser Ziel ist es, Knochenerkrankungen möglichst frühzeitig zu erkennen und zu therapieren, um ausgeprägte Fehlstellungen möglichst zu verhindern“, erläutert Mindler. Bestehen bereits Deformitäten, versuchen Kinderorthopädinnen und Kinderorthopäden das Restwachstum optimal auszunutzen und den kleinen Patientinnen und Patienten mit möglichst minimal-invasiven chirurgischen Eingriffen zurück in ein gesundes Leben zu helfen.


Fotos: © istock Choreograph

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