Menschen mit schweren Bluterkrankungen haben oft nur eine Hoffnung: Eine Stammzell- bzw. Knochenmarktransplantation, die ihr Leben retten kann. Neben dem körperlichen Leiden haben diese Patienten auch mit enormen seelischen Belastungen zu kämpfen. Am Wiener AKH helfen ihnen neuerdings die Wiener Philharmoniker durch die Krise. Mit viel Erfolg, wie erste Ergebnisse eines einzigartigen Forschungsprojekts zeigen, das jetzt im Herbst in die zweite Runde geht.
Von Mag. Karin Kirschbichler
„Durch die Stammzelltherapie habe ich neues Leben für mein blutbildendes System bekommen, durch die Musik ein neues Leben für meine Psyche“, sagt eine ehemalige Patientin der Abteilung für Knochenmarktransplantation am Wiener AKH. Die Frau litt an Leukämie, ihre letzte Hoffnung im Kampf gegen die schwere Bluterkrankung war eine Stammzelltransplantation, das heißt ein kompletter Austausch der blutbildenden Zellen.
Vor, während und nach dieser drastischen Maßnahme stand die Patientin wie alle ihre Leidensgenossen unter enormem Stress. Zuerst das bange Warten auf die passende Stammzellspende, dann die Strapazen der medizinischen Behandlung wie Ganzkörperbestrahlung und Hochdosis-Chemotherapie, dann die Anspannung bei der Transplantation der fremden Zellen, dann die Isolation, in der sich die Patienten vier bis sechs Wochen befinden müssen, die Ängste in der Zeit, in der das Immunsystem so geschwächt ist, dass jede kleinste Infektion tödlich sein kann, und nicht zuletzt die Befürchtung, dass die fremden Zellen vom Körper abgestoßen werden und die Therapie erfolglos bleibt – all das lastet schwer auf der Seele der Betroffenen. „Wir sind konstant gefordert, menschliches Leben am Abgrund zu behandeln und wieder in Balance zu bringen“, sagt Univ. Prof. Dr. Christoph Zielinski, Leiter der Wiener Universitätsklinik für Innere Medizin I. Dabei geht es nicht nur um Lebenserhaltung durch intensivmedizinische Behandlung nach allen Regeln der ärztlichen Kunst, sondern auch um Lebensqualität. Um sie zu verbessern, wird den Patientinnen und Patienten der Abteilung für Knochenmarktransplantation (KMT) am Wiener AKH schon seit rund zehn Jahren interdisziplinäre Unterstützung von einem Team aus Medizinern, Pflegenden, Psychologen, Sozialarbeitern und Seelsorgern geboten.
Ständchen am Krankenbett
Auf der Suche nach weiteren Möglichkeiten, die psychischen Belastungen der Knochenmarktransplantierten zu lindern, hat KMT-Leiter Univ. Prof. Dr. Peter Kalhs vor rund zwei Jahren ein Projekt gestartet, das weltweit seinesgleichen sucht. Die Auswirkungen von Musik auf die Lebensqualität von Patienten während und nach einer Stammzelltransplantation sollten untersucht werden – im Krankenzimmer der Betroffenen, mit wissenschaftlichen Parametern und mit Musikern der Spitzenklasse: den Wiener Philharmonikern.
15 Patienten der KMT-Station nahmen freiwillig am Forschungsprojekt teil: „Jedem von ihnen brachte jeweils drei bis vier Tage nach der Knochenmarktransplantation ein Mitglied der Wiener Philharmoniker live im Krankenzimmer ein zirka 15- bis 20-minütiges Ständchen dar. Das Privatkonzert wurde aufgezeichnet und den Patienten in CD-Form zum uneingeschränkten Musikgenuss übergeben“, erklärt Kalhs die Vorgehensweise.
Stress wird gemindert
Wie groß der Genuss für die Patienten wirklich ist, wird streng wissenschaftlich mit der so genannten Smard-Watch erhoben. Dieses Gerät wird wie eine Armbanduhr am Handgelenk getragen und misst im Sekundentakt verschiedene Parameter, die durch Stress bzw. Entspannung beeinflusst werden wie Hautwiderstand, Muskeltonus und andere. Dazu ermittelt man anhand von Fragebögen die subjektive Befindlichkeit der Kranken.
Erste Ergebnisse klingen vielversprechend: „Wir haben sehr gute Erfahrungen gemacht“, resümiert Kalhs, „schon während der Darbietung fühlten sich alle Patienten subjektiv wohler. Und mit unseren Messmethoden konnten wir das auch objektiv zeigen. Bei allen Probanden wurde eine nachhaltige Entspannung gekoppelt mit freudiger Erregung registriert.
Der Effekt zeigte sich auch beim Hören der CD, war aber bei der Live-Darbietung deutlich stärker.“ Worauf man diese positiven Auswirkungen zurückführt?
„Der Musiker spricht mit dem Kranken, spielt persönlich für ihn – und diese Art der Zuwendung ist ebenso wichtig für die Patienten wie die Musik selbst“, sagt Kalhs.
Die persönliche Note
Dass die persönliche Zuwendung ausgerechnet von Mitgliedern der Wiener Philharmoniker kommt, hat auch einen persönlichen Grund: Vor etwa fünf Jahren war ein Mitglied des Orchesters an Leukämie erkrankt, eine Knochenmarktransplantation war seine einzige Überlebenschance. Als Philharmoniker-Vorstand Prof. Dr. Clemens Hellsberg seinen Musikerkollegen im Krankenhaus besuchte, konnte er sich ein Bild von der extremen Lebenssituation der Knochenmarktransplantierten machen. Das erweckte in ihm den Wunsch zu helfen: „Schließlich hat Kunst immer auch eine zutiefst humane Botschaft“, sagt Hellsberg. Durch das aktuelle Projekt wurde sein Wunsch erfüllt. Und für die Patienten bekommt der Musikgenuss durch die Tatsache, dass ein Wiener Philharmoniker für sie spielt, eine besondere Note: „Sie fühlen sich dadurch besonders wertgeschätzt, und auch das stärkt ihre Psyche“, so Kalhs.
Fortsetzung folgt
Das erfreuliche Resümee ermutigt Kalhs und seine Kollegen zur Fortsetzung des Projekts: „Jetzt im Herbst beginnen wir mit der Evaluierung weiterer Faktoren. Wir möchten wissen, wie wichtig der Zeitpunkt ist, an dem das Medikament Musik verabreicht wird, also ob es für das Wohlbefinden der Patienten eine Rolle spielt, ob die Darbietung in einer bestimmten Phase der Behandlung bzw. ob sie morgens, mittags oder abends stattfindet. Und wir wollen weiters erheben, welche Art der Musik besonders positiv wirkt“, blickt Kalhs in die nahe Zukunft. Bisher wurden Violin-Solopartien von Johann Sebastian Bach, Fritz Kreisler und Wolfgang Amadeus Mozart zum Besten gegeben, man hat aber bereits festgestellt, dass die Patienten Bach-Werken mit hoch komplizierter Melodik nicht so gut folgen können. Bis man weiß, was den Schwerstkranken am meisten Erleichterung verschafft, wird für die Mitglieder der Wiener Philharmoniker das Krankenzimmer auch weiterhin zeitweilig zum Konzertsaal.
Knochenmark oder Stammzellen:
Was wird transplantiert?
Das (rote) Knochenmark liegt im Inneren der Knochen und ist für die Bildung sämtlicher Blutzellen verantwortlich: Rote und weiße Blutkörperchen sowie Blutplättchen entwickeln sich allesamt aus gemeinsamen Vorläufern, den Blutstammzellen.
Ist das Knochenmark aufgrund einer bösartigen Erkrankung (Leukämie, Lymphom etc.) oder einer Krebstherapie (Chemo-, Strahlentherapie) soweit geschädigt, dass es seine Funktion nicht mehr erfüllen kann, so kann eine Transplantation die letzte Rettung sein.
Dazu muss (mit Ausnahme der seltenen Eigenmarkspende) ein verwandter oder fremder Spender gefunden werden, dessen Knochenmarkstammzellen hinsichtlich ganz bestimmter Merkmale für den Empfänger passen.
Abhängig von der Stelle, an dem die lebensrettende Spende gewonnen wird, spricht man von Knochenmark- oder Stammzelltransplantation: Für die erste Methode werden die Stammzellen durch Punktion des Knochenmarks aus dem Beckenknochen des Spenders gewonnen, für die zweite entnimmt man (Blut-) Stammzellen (nach entsprechender Vorbehandlung des Spenders) direkt
aus dem Blut. Stammzelltransplantationen werden heute wesentlich häufiger durchgeführt als Knochenmarktransplantationen.
Derzeit sind weltweit mehr als 12 Millionen freiwillige Knochenmark- bzw. Stammzellspender registriert. Österreich liegt mit 53.000 an der Spitze. Dank der enormen Fortschritte der Transplantationsmedizin liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Spender gefunden wird, inzwischen bei 85 bis 90 Prozent.
In Österreich werden jährlich rund 450 Knochenmark- bzw. Stammzelltransplantationen durchgeführt, davon rund 80 am Wiener AKH. Die Patienten sind durchschnittlich 45 Jahre alt.