Alle Jahre wieder wirft die Umstellung auf die Sommerzeit viele aus ihrem Rhythmus. Besonders alarmierend: Bei einem Großteil der Menschen ist das Leben gegen die innere Uhr nicht bloß eine vorübergehende Begleiterscheinung der Zeitumstellung, sondern ein Dauerzustand. Die Folgen sind hochgefährlich, wie die medizinische Forschung immer deutlicher zeigt.
Von Mag. Alexandra Wimmer
Montag, zwischen sechs und sieben Uhr früh in Österreichs Schlafzimmern: Zahllose Wecker sind im Einsatz, um die Schlummernden – sanft, schrill, rockig oder mit launigen Sprüchen – rechtzeitig aus den Betten zu holen. Schließlich würde bei der Mehrzahl der „innere Wecker“ um einiges später klingeln als jener auf dem Nachttisch. „Die Menschen heute werden gezwungen, gegen ihre inneren Uhren zu leben“, warnt der deutsche Chronobiologe Prof. Dr. Till Roenneberg vom Institut für Medizinische Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Und erklärt, warum diese Tendenz sich in letzter Zeit verschärft hat: „Licht und Dunkel sind das einzige, woran sich innere Uhren synchronisieren, also ausrichten, können. Weil sie viel zu wenig Licht tagsüber und gleichzeitig viel zu viel Licht am Abend bekommen, geraten sie durcheinander.“
Die Gründe? „Zum einen halten wir uns fast ausschließlich in Gebäuden auf“, so Roenneberg. In Schulen, Büros und Wohnungen kann das Tageslicht uns nur abgeschwächt erreichen. „Zum anderen haben wir abends, wenn es eigentlich Zeit zum Schlafengehen ist, noch lange künstliches Licht.“ Die nahezu monotonen Lichtverhältnisse sind unserem inneren Taktgeber bloß „schwache Orientierungshilfen“. Bei jener Minderheit hingegen, Landwirten etwa, die tagsüber viel im Freien sind und „mit den Hühnern zu Bett gehen“, „ist es für die innere Uhr einfach zu wissen, wann Tag und wann Nacht ist.“
Der innere Leuchtturm
Wo genau unsere innere Uhr tickt? Tatsächlich existiert in jeder Zelle unseres Körpers ein solcher Zeitmesser, erklärt Roenneberg, also in jeder Leberzelle, jeder Herzzelle usw. Damit sich diese Millionen von Uhren in unserem Körper an der Außenwelt ausrichten können, gibt es im Gehirn ein Schaltzentrum von der Größe eines Reiskorns, das über der Sehnervenkreuzung sitzt. „Das Schaltzentrum funktioniert gleichsam wie ein umgekehrter Leuchtturm, der nicht Licht in die Außenwelt, sondern Licht von außen nach innen, in den Organismus, schickt“, verdeutlicht der Chronobiologe. Den „Blick“ für hell und dunkel hat der „Leuchtturm“ über die Verbindung mit den Nervenfasern und -zellen, die aus der Netzhaut des Auges kommen. „Über Nervenendungen, Botenstoffe et cetera werden alle anderen Uhren des Körpers in allen anderen Zellen darüber informiert, welche innere Tageszeit es gerade geschlagen hat“, sagt Roenneberg.
Der Traum vom Ausgeschlafensein
Die innere Uhr hat nun vor allem dafür zu sorgen, dass alle Vorgänge – Schlafen, Wachsein, Essen etc. – zur richtigen Zeit ablaufen. „Das bedeutet, dass wir nachts schlafen und tagsüber aktiv sein sollten“, erklärt der Chronomediziner Univ. Prof. Dr. Maximilian Moser von der Medizinischen Universität Graz. „Man weiß, dass eine gut durchschlafene Nacht ein nicht ersetzbarer Regenerationsfaktor für den Organismus ist.“ In dieser Zeit werden z. B. Miniverletzungen von Muskeln ausgeheilt, und das Immunsystem ist vorwiegend in der ersten Nachtphase aktiv.
Neben der richtigen Tages-, nämlich der Nachtzeit, ist für erholsamen Schlaf auch die Dauer ausschlaggebend. Maximale Lebenserwartung bescheinigt man jenen – das konnten Studien in Japan und den USA an jeweils über einer Million Menschen zeigen – die sieben bis acht Stunden schlafen. Von einem ausgiebigen Nachtschlaf können die meisten allerdings nur träumen, beobachten Experten weltweit. In den letzten zehn, 20 Jahren ist die Schlafdauer kontinuierlich zurückgegangen. „Heute schlafen wir um rund eine halbe Stunde, das sind über sechs Prozent, weniger als noch vor 15 Jahren“, betont Moser, der außerdem das Human Research Institut in Weiz leitet, wo man sich mit der Messung der biologischen Rhythmen beschäftigt. An das chronische Schlafmanko haben sich viele längst gewöhnt; die wenigsten wissen, was es bedeutet, wirklich ausgeschlafen zu sein. „Dies lässt sich auch am hohen Koffeinkonsum ablesen, der uns sagt: Wir arbeiten ständig gegen ein übermüdetes System“, sagt Till Roenneberg.
Der soziale Jetlag
Ob man selbst gegen die innere Uhr lebt, lässt sich einfach herausfinden: Kommen Sie ohne Hilfsmittel aus den Federn? „Jeder, der zum Aufwachen einen Wecker braucht, und das sind immerhin rund 80 Prozent der Bevölkerung, hat noch nicht zu Ende geschlafen und lebt nicht im Einklang mit der inneren Uhr“, erklärt Roenneberg. Die Zeitdifferenz zwischen dem Weckerläuten (=gesellschaftlich vorgegebene Aufwachzeit) und jener Zeit, in der man von selbst aufwachen würde (=biologische Aufwachzeit), bezeichnet der Forscher als „sozialen Jetlag“: „Wenn der biologische Aufwachzeitpunkt um neun Uhr morgens wäre und man um sechs Uhr aufstehen muss, ergibt das einen sozialen Jetlag von drei Stunden.“ Nur rund 20 Prozent der Bevölkerung sind nicht von der ungesunden Zeitverschiebung betroffen. Vor allem kleine Kinder und die „Frühtypen“ (Lerchen) unter uns sind beim Aufstehen ausgeschlafen, wach und aktiv.
Das Chaos im Körper
Alle anderen leiden mehr oder weniger darunter, dass mit der inneren Uhr auch körperliche Abläufe durcheinandergeraten, „sei es die Hormonausschüttung, der Schlaf-Wach-Rhythmus, das Essverhalten“, so der Chronobiologe Roenneberg. „Das Verdauungssystem etwa wird durch das frühzeitige Aufstehen quasi mitten in der Nacht zum Frühstücken aufgefordert.“ Auch die falsch getimeten Abläufe im Hormonsystem haben Folgen: „Eine Cortisolausschüttung in der Nacht kann zur Unterdrückung des Immunsystems führen, sodass die Beseitigung von Krebs- oder infektiösen Zellen nicht richtig funktioniert“, warnt Moser.
Bevor allerdings schwere Krankheiten ausbrechen, macht sich der ungesunde Lebensstil vor allem durch Müdigkeit bemerkbar. Wer weiterhin gegen die
innere Uhr lebt, schwächt das Immunsystem und wird anfälliger für Erkältungen & Co. Und auf Dauer kann das „taktlose Leben“ Erkrankungen wie Arterosklerose oder sogar Krebs nach sich ziehen. „Unter Nacht- und Schichtarbeitern ist die Krebsrate sehr hoch“, weiß Chronomediziner Moser. Nicht zuletzt steigt das Risiko für Übergewicht und Adipositas. „Wir haben entdeckt, dass mit jeder Stunde des sozialen Jetlags die Wahrscheinlichkeit für Übergewicht um 30 Prozent steigt“, berichtet Till Roenneberg über Forschungen.
Und dieses Risiko erhöht sich mit der Umstellung der Uhren auf die „Sommerzeit“ weiter. „Dann müssen wir zu dem existierenden sozialen Jetlag noch eine Stunde addieren“, betont der Chronobiologe. Wie sich das „Stündchen weniger“ in der Früh auf unsere inneren Uhren auswirkt? Till Roenneberg: „Mit der Zeitumstellung müssen wir mit einem Schlag wieder, wie im Winter, vor Sonnenaufgang aufstehen. Das wirft uns in der Umgewöhnung um rund vier Wochen zurück.“
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