Hilfe, mein Kind ist zuckerkrank!

September 2012 | Medizin & Trends

Immer mehr Junge leiden an Typ-1-Diabetes
 
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes hat sich in den vergangenen 15 Jahren verdoppelt, und Experten befürchten, dass in nächster Zeit noch mehr Junge betroffen sein werden. Über die Ursachen für diesen Anstieg tappen die Mediziner derzeit noch im Dunkeln. Verbessert hat sich unterdessen die Behandlung der Krankheit. Und doch stellt sie das Leben der ganzen Familie auf den Kopf.
 
Von Mag. Sabine Stehrer

Martha war sieben Jahre alt, als mir aufgefallen ist, dass sie dauernd Durst hatte, extrem viel getrunken hat und dementsprechend oft aufs Klo gegangen ist“, schildert Helene M. die ersten Anzeichen bei ihrer Tochter. „Dann hat sie ständig über Müdigkeit geklagt und in der Schule nachgelassen. Und als sie dann auch noch abgenommen hat, war ich so beunruhigt, dass ich mit ihr zum Arzt gegangen bin.“
Diabetes mellitus Typ 1 lautete die Diagnose – ein Schock für die ganze Familie und inzwischen alles andere als ein Einzelfall: „In den vergangenen 15 Jahren hat sich die Zahl der jungen Typ 1-Diabetiker in Europa und auch in Österreich verdoppelt“, sagt Univ. Prof. Dr. Thomas Pieber, Leiter der Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel an der Medizinischen Universität Graz. Aktuell haben hierzulande 2500 bis 3000 Unter-15-Jährige Diabetes Typ 1, jedes Jahr werden 250 bis 300 Neuerkrankungen gezählt, und diese Zahl wird weiter stark steigen, befürchten Experten.

Sauberkeit, Kuhmilch, Fastfood?

Warum die Stoffwechselkrankheit, bei der die Bauchspeicheldrüse nicht genug Insulin produziert, um den Blutzucker aus der Nahrung richtig verwerten zu können, unter den Jungen neuerdings so grassiert, weiß man nicht. Pieber: „Es gibt diesbezüglich aber verschiedene Vermutungen.“ So nimmt man etwa an, dass das Leiden auf eine Fehlsteuerung des Immunsystems zurückgeht, durch die jene Zellen, die Insulin erzeugen, mit Krankheitserregern verwechselt und zerstört werden. „Ähnlich wie bei Allergien, bei denen sich das Immunsystem ebenfalls auf falsche Feinde stürzt und belastende Abwehrmechanismen in Gang setzt, könnten an der Zerstörung der Insulin produzierenden Zellen die immer höheren Hygienestandards in den Haushalten schuld sein“, sagt Pieber. Für diese These spricht, dass in Gebieten mit hohem Wohlstand wie z. B. Finnland mehr Kinder von Diabetes Typ 1 betroffen sind als etwa in Bulgarien.
Als weitere Ursache für die zunehmende Verbreitung der Zuckerkrankheit gilt der immer beliebtere Ersatz der Muttermilch durch Kuhmilchprodukte. Pieber: „Über Kuhmilchprodukte nimmt der Säugling artfremdes Eiweiß auf, und das verleitet das Immunsystem dazu, die Insulinproduktion zu drosseln.“ Auch meint man, dass eine an Transfetten reiche Ernährung wie Fastfood Diabetes Typ 1 begünstigt, weil auch Transfette das Immunsystem aus der Balance bringen. Eventuell spielt auch die Veranlagung eine Rolle. „Man muss aber leider sagen, dass wir derzeit nicht einmal wissen, ob es bei jedem die gleichen Faktoren sind, die Diabetes mellitus Typ 1 auslösen“, gibt Diabetes-Expertin Univ. Prof. Dr. Edith Schober von der Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde am AKH in Wien zu.

Die einzige Hilfe: Insulin

So schwierig sich die Ursachenforschung gestaltet, so leicht ist die Diagnose von Diabetes Typ 1. Sie erfolgt durch ein Gespräch mit dem Arzt, eine Harnuntersuchung und eine Messung des Blutzuckerwerts per Nadelstich in den Finger. Schober: „Die Standardbehandlung besteht in der Zufuhr des Hormons Insulin, wobei man sagen muss, dass die Insulintherapie heute kontrollierter als früher erfolgt und daher auch besser hilft.“ Wann, wie oft, in welchen Mengen und wie die Insulin-Zufuhr erfolgt – das hängt von den Ergebnissen der Blutzuckermessungen ab, von der Ernährung, dem Alter, dem Gewicht und der Frage, ob sich die Kinder viel bewegen oder eher Couch-Potatoes sind. Bei zuckerkranken Kindern bis zum Alter von fünf Jahren managen die Eltern die Therapie, messen bis zu sechs Mal am Tag den Blutzucker und führen das Insulin zu, viele über eine Insulinpumpe, die das Hormon durch einen Katheter in den Körper schleust: So bleiben dem Kind wenigstens einige Nadelstiche erspart.

Therapie erfordert Disziplin

Kinder im Schulalter und Jugendliche sind oft schon in der Lage, sich selbst zu therapieren. „Sie bevorzugen für die Injektionen ein kugelschreiberartiges Gerät, den Pen“, weiß Schober. Ganz einfach ist die Behandlung aber nicht, denn, so Schober: „Sie erfordert sehr viel Disziplin.“ Nachlässigkeiten können zu einer Unterzuckerung führen, die mit Zittern, Schwindelgefühlen und Heißhunger verbunden ist: Symptome, die wieder verschwinden, sobald die Betroffenen z. B. ein Stück Traubenzucker essen. Schwere Unterzuckerungen mit Bewusstseinsverlust passieren, so Schober, im Schnitt alle drei bis fünf Jahre. Sie sind zwar unangenehm für die Betroffenen, beeinträchtigen die Gesundheit aber meist gar nicht.
Anders sieht es bei einer Überzuckerung aus, der sogenannten Diabetischen Hyperglykämie, die wiederum zur Diabetischen Ketoazidose führen kann. Sie bringt Symptome wie Müdigkeit, Erbrechen und Bauchschmerzen mit sich bis hin zu Bewusstseinsveränderungen und zur gefürchteten Ohnmacht, gepaart mit Krampfanfällen. Schober: „Die Diabetische Ketoazidose kann lebensbedrohlich sein, wenn sich beim Anfall ein Hirnödem bildet.“ Hilfe bringt auch hier Insulin, das zusammen mit Flüssigkeit in Form von Infusionen verabreicht wird.

Bessere Behandlung

Zum Trost für die kranken Kinder und ihre Familien: Aufgrund der immer weiter entwickelten, besser kontrollierten Behandlung ist das Wohlbefinden der Betroffenen heute deutlich weniger beeinträchtigt. Aber nicht nur das: „Die früher verbreiteten Spätschäden wie Nierenerkrankungen, Herzbeschwerden, Augenprobleme und Durchblutungsstörungen werden bei den derzeit erkrankten Jungen bei guter medikamentöser Einstellung seltener auftreten“, so Schober. Ein Schock ist die Diagnose dennoch: Schließlich stellt die Krankheit das Leben der ganzen Familie auf den Kopf, weil sie den Alltag dauerhaft schwieriger macht.

Ein Kind wie jedes andere

„Daher sollten sich Betroffene und ihre Angehörigen helfen lassen, zum Beispiel von einem Psychologen. Und das nicht nur nach der Diagnose, sondern auch immer dann, wenn es eine Krise gibt.“ Oft ist das der Fall, wenn Therapiemüdigkeit aufkommt oder der Blutzuckerspiegel aus unerklärlichen Gründen entgleist. Oder auch, wenn sich Betreuungspersonen im Kindergarten oder in der Schule durch die Verantwortung für das zuckerkranke Kind überfordert fühlen, es aus dem Turnunterricht ausschließen oder auf Ausflüge nicht mitnehmen. Dabei ist ein Kind mit Diabetes bei entsprechender Behandlung „genauso leistungsfähig wie jedes andere und kann alles mitmachen“, versichert Expertin Schober.

Neue Forschungen geben Hoffnung

Völlig neue Wege werden bei der Behandlung der Zuckerkrankheit bis auf Weiteres nicht gegangen. Doch Forschungen, die unter Piebers Leitung an der Medizinischen Universität Graz für die kommenden vier Jahre geplant sind, geben Hoffnung. Sie zielen darauf ab, die Ursachen für die Krankheit dingfest zu machen. Gelingt das, könnte die Behandlung zumindest bequemer werden, weil nicht mehr so oft Insulin gespritzt werden muss. Auch Substanzen, die das Immunsystem und die Insulinproduktion regulieren, wie Vitamin D, könnten helfen. „Heilbar sein wird Diabetes Typ 1 aber in nächster Zeit nicht“, sagt Pieber. Ob man der Krankheit vorbeugen kann, etwa indem präventiv Vitamin D genommen wird, wollen er und sein Team ebenfalls erforschen.

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Mehr Junge mit Altersdiabetes

So wie immer mehr Kinder und Jugendliche von Typ 1-Diabetes betroffen sind, gibt es heute weltweit auch mehr Unter-15-Jährige mit Altersdiabetes (Diabetes mellitus Typ 2) als früher. In Österreich steigt die Zahl ebenfalls an, wenn auch nur sehr leicht, sagt Univ. Prof. Dr. Thomas Pieber. Die Hauptursache für Diabetes Typ 2 ist starkes Übergewicht, und die Krankheit ist gut heilbar, indem Übergewicht abgebaut wird. Pieber: „Gelingt das nicht, müssen auch junge Typ 2-Diabetiker mit Insulin behandelt werden.“ Andernfalls drohen ihnen im Erwachsenenalter klassische Folgeerkrankungen wie Nierenleiden, Augenprobleme und Durchblutungsstörungen.

Buchtipp:

Francesconi, Holub, Pohanka, Woitzuck,
BASIS-BOLUS-Insulintherapie. Erfolgreiche Selbstanpassung
bei Typ-1-Diabetes – die Alland-Methode
ISBN 978-3-902552-30-3, 176 Seiten, € 14,90
Verlagshaus der Ärzte

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