Von Alkohol bis Kaufrausch

Februar 2013 | Gesellschaft & Familie

So süchtig ist Österreich
 
Essen gegen die innere Leere, Alkohol gegen den Kummer, Nikotin für die gute Laune, Aufputschmittel für den schnellen Erfolg, Computerspiele zur Entspannung, Medikamente für den erholsamen Schlaf: Weil die moderne Leistungsgesellschaft rasche Problemlösungen verlangt, wird die Allgegenwart von Suchtmitteln zur wachsenden Gefahr. Aktuell gibt der zunehmende Missbrauch von Beruhigungs- und Schmerztabletten Anlass zur Besorgnis, aber auch Spiel-, Kauf-, Online- und Arbeitssucht sind auf dem Vormarsch. Für MEDIZIN populär analysieren Experten die vielen Gesichter der Sucht in Österreich.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer

Essen, Alkohol, Nikotin, Medikamente: Suchtmittel werden beileibe nicht nur im Hinterhof gehandelt, man findet sie auf jedem Wohnzimmertisch, in Schulklassen, Schlafzimmern, Büros. Und ihr Missbrauch ist längst nicht nur das Problem von Randgruppen, sondern betrifft Menschen jeden Alters, aller sozialen Schichten, beiderlei Geschlechts. Neben an jeder Ecke erhältlichen Substanzen entfalten auch alltägliche Tätigkeiten wie Arbeiten, Einkaufen oder das Surfen im Internet ihr Suchtpotenzial. Verschärfend trifft die Allgegenwart von Suchtmitteln auf die Anforderungen des modernen Lebens, auf Leistungs-, Konkurrenz- und Zeitdruck, wirtschaftliche Unsicherheit und Arbeitslosigkeit. Eine gefährliche Konstellation: „Wenn man etwa unter einem Spannungs- oder Unruhezustand leidet und man schluckt ein Beruhigungsmittel, dann geht es einem besser. Oder man trinkt Alkohol und kann sich wieder entspannen“, schildert Prim. Univ. Prof. Dr. Michael Musalek, Leiter des Anton-Proksch-Instituts in Wien, typische Wege in die Sucht. Ob man wegen des Jobs gestresst oder wegen finanzieller Sorgen oder Beziehungsproblemen belastet ist: „Jedes Suchtmittel wirkt hervorragend, darum ist es auch so gefährlich“, warnt der Experte. Im Verlauf einer Suchterkrankung treten dann zunehmend mehr Krankheitszeichen auf, sodass die Wirkung der Droge der Wahl nicht mehr ausreicht. Süchtige versuchen das „auszugleichen“, indem sie immer mehr davon konsumieren – ein fataler Kreislauf.

Mechanismen im Gehirn

Dabei ist egal, ob es einen nach Nikotin, Glücksspiel, Cannabis oder Arbeit verlangt – im Gehirn der Abhängigen laufen die jeweils gleichen Mechanismen ab. Es kommt zu einer Fehlsteuerung im Belohnungs- und Verstärkungssystem, das betreffende Hirnareal, das limbische System, wird quasi überaktiviert. Der Dopaminspiegel gerät durcheinander, was ein „High“, aber auch Entzugserscheinungen bewirkt. „Bei allen Süchtigen ist dieselbe Störung der Dopaminrezeptoren zu sehen“, erläutert Univ. Prof. Dr. Gabriele Fischer, Leiterin der Drogenambulanz an der Medizinischen Universität Wien, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie sowie Expertin für Suchtforschung und Suchttherapie.
Ob dieser Mechanismus im Gehirn sich erst allmählich durch den Suchtmittelmissbrauch bildet oder von vornherein gegeben ist, sei „wissenschaftlich nicht geklärt“, sagt Fischer. „Aber die genetische Empfindlichkeit, die schon vor der Erkrankung da ist, spielt sicher eine Rolle.“ Diese Empfindlichkeit bezieht sich nicht auf eine spezielle Sucht, sondern auf süchtiges Verhalten insgesamt. „Das kann heute die Esssucht, morgen der Alkohol oder die Kombination aus beidem sein“, so die Medizinerin. Begibt sich ein Süchtiger in Behandlung und lernt, die Sucht zu beherrschen, bilden sich die Veränderungen im Gehirn zurück. „Eine gewisse Empfindlichkeit bleibt aber immer bestehen“, betont Gabriele Fischer.

Gefährliche Trends

Dabei schadet das Suchtmittel der Wahl nicht nur der Psyche, sondern auch dem Organismus. „Alkohol beispielsweise schädigt in hoher Dosierung alle Körpersysteme“, betont Musalek. Und auch die vielen anderen Suchtmittel haben es in sich. Ein zunehmendes Problem stellen etwa Medikamente, insbesondere verschreibungspflichtige Schmerz- und Beruhigungsmittel, dar. „Der Gebrauch insbesondere von opiathaltigen Schmerzmitteln nimmt bei uns zu“, weiß Gabriele Fischer. Als einen Grund dafür nennt die Expertin den Anstieg von Depressionen, die sich oft als Schmerzen etwa im Rücken oder als Schlafstörungen maskieren.
„Auch Aufputschmittel sind hochgefährlich und führen relativ rasch zur Abhängigkeit“, erklärt Psychiater Musalek. Ihr süchtiger Gebrauch hängt mit den Ansprüchen, insbesondere „einer etablierten sozialen Schicht, zusammen, beobachtet Gabriele Fischer: „Weil man immer mehr in immer kürzerer Zeit schaffen muss, nimmt man Amphetamine, die kurzfristig aufputschen. Das geht so weit, dass man Minderjährigen Medikamente gibt, damit sie besser lernen und sich besser konzentrieren können.“
Auf der anderen Seite stehen die Probleme sozial schwacher Schichten: Arbeitslosigkeit, zunehmende Verarmung. „Bei schlechten Zukunftsperspektiven greift man eher zu Beruhigungs- oder Schmerzmitteln“, weiß Fischer. Aber auch Alkohol und Nikotin haben in tristen Zeiten Hochkonjunktur: Schon 1933 hat die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ anschaulich gezeigt, „dass Menschen vermehrt an Leberzirrhose und Lungenkrebs sterben, wenn es ihnen schlecht geht, weil sie zu viel trinken und rauchen“, berichtet Fischer. „Das Suchtmittel ist quasi das letzte, was ihnen noch bleibt.“

Die Wegbereiter

Die schwierigen sozialen Rahmenbedingungen belasten auch den Nachwuchs, der z. B. unter Vernachlässigung und Verwahrlosung leidet – und dem negativen Vorbild der Eltern. „Wenn Eltern arbeitslos sind, erleben die Minderjährigen sie zuhause sitzend, essend, trinkend, rauchend“, sagt Gabriele Fischer.
Die Tendenz zu süchtigem Verhalten ist außerdem genetisch bedingt. „Es ist bekannt, dass Kinder von alkoholabhängigen Eltern leichter esssüchtig werden“, verdeutlicht die Expertin. Daneben gilt etwa Leistungsdruck als bedeutender Faktor für süchtiges Essverhalten und Übergewicht: „Eine Untersuchung zeigt, dass bei Kindern und Jugendlichen das Übergewicht mit dem subjektiven Gefühl korreliert, in der Schule unter Druck zu sein“, so Fischer.
Nicht zuletzt führen Lebenskrisen dazu, dass man in eine Sucht „rutscht“. Gabriele Fischer gibt ein Beispiel: „Eine Frau, deren Mutter Alkoholikerin war und die selbst nie getrunken hat, verliert plötzlich die Arbeit, kurz darauf trennt sich der Partner“, so die Expertin. „Hier kommt zur familiären Vorbelastung eine schwere Krise. Die Frau trinkt regelmäßig erst ein Glas Wein, später zwei und ist ruckzuck in der Sucht.“

Sucht als Selbsttherapie

Fest steht, dass Sucht eine schwere psychiatrische Erkrankung ist, die nie allein für sich auftritt. „Sie ist immer eingebettet in andere Erkrankungen oder zumindest in massive psychische oder psychosoziale Störungen“, sagt Michael Musalek. Über diese begleitenden psychiatrischen Erkrankungen weiß man heute besser denn je Bescheid,
z. B. über die bipolare Störung, „die ein hohes Suchtrisiko beinhaltet“, erklärt Prim. Dr. Renate Clemens-Marinschek, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und ärztliche Leiterin des Sonderkrankenhauses de La Tour in Treffen. „Auch Angst- und Persönlichkeitsstörungen haben stark zugenommen.“ Diese gehen ebenfalls oft mit Süchten im Sinne einer „Selbsttherapie“ einher. Um nun diese Erkrankungen erkennen und behandeln zu können, müssen die Abhängigen zuerst von der Droge loskommen. Clemens-Marinschek: „Werden die Erkrankungen nicht behandelt, wird der Betreffende schließlich wieder zur Selbstmedikation, nämlich dem Suchtmittel, greifen.“

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Wonach sind wir süchtig?


Alkohol
ist und bleibt das Suchtmittel Nr. 1 in Österreich. Die Zahl der Alkoholkranken ist zuletzt auf 340.000 gestiegen. Die Gründe: Das durchschnittliche Einstiegsalter für Alkoholkonsum ist um drei Jahre gesunken und liegt heute zwischen dem elften und 13. Lebensjahr. Außerdem holen die Frauen auf: Kam vor 20 Jahren auf vier alkoholkranke Männer eine alkoholkranke Frau, liegt das Verhältnis heute bei 3,5:1. „In 20 Jahren werden wir ein Verhältnis von zwei alkoholkranken  Männern zu einer alkoholkranken Frau haben“, blickt der Wiener Psychiater Prim. Univ. Prof. Dr. Michael Musalek in die Zukunft. „Aus Studien weiß man außerdem, dass die Alkoholabhängigkeit beim älteren Menschen zugenommen hat. Sie bleibt oft unerkannt, weil der alte Mensch aufgrund der reduzierten Stoffwechselfunktion keine großen Mengen braucht, um abhängig zu werden“, ergänzt die Kärntner Suchtexpertin Prim. Dr. Renate Clemens-Marinschek.

Eine wichtige „Kulturdroge“ hierzulande ist laut der Wiener Suchtforscherin Univ. Prof. Dr. Gabriele Fischer das Essen – der Schweinsbraten, das Schnitzel, Mehlspeisen und Junkfood. „Die dramatische Zunahme des Übergewichts in Österreich, vor allem in jungen Jahren, ist auf ein süchtiges Essverhalten zurückzuführen“, sagt Fischer. In Österreich sind mehr als 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen von Übergewicht, rund ein Prozent von Magersucht (Anorexie) und rund drei Prozent von Essbrechsucht (Bulimie) betroffen.

Die Zahl der Nikotinabhängigen in Österreich wird auf rund 1,4 Millionen Menschen geschätzt. Während das Einstiegsalter der Jugendlichen konstant im 14., 15. Lebensjahr liegt, haben Frauen die Männer in Sachen Nikotinkonsum mittlerweile überholt.  

Rund 120.000 Menschen in Österreich sind von Medikamenten abhängig“, informiert Musalek. Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmittel führen zu einer massiven psychischen und physischen Abhängigkeit, warnen Experten.

Substanzunabhängige Suchterkrankungen wie Spiel-, Kauf-, Online- oder Arbeitssucht sind massiv im Zunehmen begriffen. Weil es diesbezüglich für Österreich zum Großteil keine Daten gibt, rechnet man Studienergebnisse aus Deutschland hoch. „60.000 bis 80.000 Menschen könnten von der Onlinesucht betroffen sein“, so Musalek. „Außerdem kommt man auf etwa 60.000 Glücksspielabhängige.

Ob Heroin, Kokain, Ecstasy, Cannabis: „Von illegalen Suchtmitteln sind rund 30.000 Menschen abhängig“, weiß Michael Musalek. „Während Mitte der 1990-er Jahre Ecstasy sehr populär war, hat Kokain jetzt stark nachgezogen“, beobachtet Clemens-Marinschek, die speziell beim Drogenmissbrauch einen Trend zum Mischkonsum ausmacht.

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Sucht-Trends:

  • Junge Menschen, Frauen und ältere Semester holen bei Suchterkrankungen stark auf.  
  • Beim Suchtmittelmissbrauch geht  der Trend in Richtung Mischkonsum: Immer häufiger werden zwei oder mehrere Suchtmittel kombiniert, z. B. Cannabis und Alkohol, Alkohol und Glücksspiel.
  • Insbesondere die Anzahl der Online- und Glücksspielsüchtigen ist zuletzt massiv angestiegen.

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Bin ich süchtig?

Meist beginnt es ganz harmlos: mit dem Gläschen Wein abends zur Entspannung; aus Neugierde, weil der beste Freund auch raucht; mit ein paar Überstunden, weil man sich im neuen Job gut einarbeiten will. Der Übergang zur Abhängigkeit ist häufig fließend. „Am Anfang einer Sucherkrankung steht meist eine Gewohnheit, dann kommt es zum Missbrauch oder schädlichen Verhalten, dann zur psychischen und schließlich zur körperlichen Abhängigkeit“, beschreibt die Psychiaterin Prim. Dr. Renate Clemens-Marinschek die fatale Spirale.
„Sucht äußert sich in einem unabwendbaren Verlangen nach einer Substanz oder einem Verhalten, das stärker ist als der Verstand und der freie Wille“, so die Fachärztin weiter. „Wenn die Gedanken ständig um eine Substanz oder ein Verhalten kreisen, besteht zumindest schon eine psychische Abhängigkeit. Die körperliche äußert sich in Entzugssymptomen wie Schwitzen, Zittern, Schlaflosigkeit.“
Auch wenn „Sucht“ sich nicht vom Wort „suchen“, sondern von „Siechtum, schweres Leiden“ ableitet, scheinen Süchtige in der Droge ihrer Wahl nach etwas zu suchen, um unerfüllte Bedürfnisse zu stillen.

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Was SUCHT diese Gesellschaft?

Der Psychiater und Leiter des Wiener Anton-Proksch-Instituts Prim. Univ. Prof. Dr. Michael Musalek über die Abkehr vom Genuss, den fatalen Wunsch nach raschen Lösungen und einen kompetenten Umgang mit Suchtmitteln.


MEDIZIN populär
Ob Alkohol, Schlafmittel oder Cannabis: Warum ist der Griff zu Suchtmitteln so gefährlich?

Prim. Univ. Prof. Dr. Michael Musalek

Das große Problem beim Gebrauch der Suchtmittel ist, wenn man damit eine rasche Lösung herbeizuführen versucht und daneben nichts gegen die Ursachen der Spannung, der Unruhe etc. unternimmt. Suchtmittel bieten scheinbar rasche, einfache Lösungen, die es im Leben aber in Wahrheit nicht gibt. Im Endeffekt stellt sich natürlich heraus, dass das Leben dadurch viel komplizierter wird.

Ein Problem der Sucht ist, dass man für dieselbe Wirkung das Suchtmittel in immer höherer Dosis benötigt. Demnach bleibt bei einer Suchterkrankung auch der Genuss auf der Strecke?

Genießen ist eine komplexe Angelegenheit, die nichts mit Konsumieren im Übermaß zu tun hat: Wer schon drei Schnitzel gegessen hat, kann nicht noch eine weitere Speise genießen. Genuss braucht Zeit, die sich die wenigsten nehmen.

Nun kann man Suchtmittel nicht einfach wegsperren – was braucht es, damit sie nicht zur Gefahr für Leib und Seele werden?

Vor allem braucht es einen kompetenten Umgang damit. Davon sind wir in Österreich weit entfernt: Zum einen wird die Suchtproblematik bagatellisiert. Wenn der Schulbub bei einer Familienfeier einen leichten Rausch hat, dann ist das nichts Besonderes. Und wenn dann jemand ein Suchtproblem hat, wird das Ganze dramatisiert, indem man dem Betreffenden alles verbietet und ihn ausschließt. Kriminalisierung ist aber keine Lösung. Man sollte klarmachen, wo die Gefahrenmomente eines Suchtmittels liegen und es dabei weder verteufeln noch beschönigen.

Könnte die Droge der Wahl nicht auch Aufschluss darüber geben, was dem Betreffenden eigentlich fehlt: Wer zu Alkohol greift, sucht eigentlich Entspannung? Wer Aufputschmittel schluckt, will sich energiegeladen fühlen?

Völlig richtig. Der Mensch versucht zu kompensieren, was er nicht hat oder wofür er sich nicht die Zeit nimmt, es selbst zu entwickeln. Da sind wir wieder bei den erwähnten raschen, einfachen Lösungen. Von diesen müssen wir wegkommen, denn sie machen uns süchtig und krank.

Buchtipp:
Kurt W. Leininger, Die Sucht lebt im Kopf. Hilfe bei & gegen Drogenabhängigkeit
ISBN 978-3-902552-25-9, 168 Seiten, € 14,90
Verlagshaus der Ärzte

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