Neurologie & Psyche

Alltagsdroge Alkohol

Das „Fluchtachterl“ vor dem Heimgehen, ein kleiner Magenbitter nach dem Essen und das Stamperl zum Einschlafen: Die Österreicher zählen in Sachen Alkohol zu den Vieltrinkern und Suchtweltmeistern. Wann das kontrollierte Trinken in die Abhängigkeit abzugleiten droht und wie neue diagnostische und therapeutische Ansätze aussehen, erklärt ein Experte in MEDIZIN POPULÄR.

von Wolfgang Kreuziger

Ein Krügerl, ein Glaserl, ein Stamperl, ein Seiterl: Jährlich schwappt eine riesige Welle von rund 80 Millionen Litern reinem Alkohol in die heimischen Gläser. Mit diesen umgerechnet 12,2 Litern pro Kopf liegt Österreich in Sachen Alkoholkonsum hinter Litauen an zweiter Stelle von 34 Industrieländern, so das alarmierende Ergebnis einer Studie der Wirtschaftsorganisation OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development). „Es sind nicht vererbte Gene, die uns diesen Spitzenplatz einbringen“, vermutet Prim. Univ. Prof. Dr. Michael Musalek, Facharzt für Psychiatrie und Leiter des Anton Proksch Instituts in Wien. „Der Grund ist vielmehr, dass in Österreich immer noch die Gefahr des Alkohols verkannt und etwa Bier geradezu als Elektrolytgetränk banalisiert wird. Zudem treffen bei uns kulturell das „skandinavische Wochenend-Rauschtrinken“ und das tägliche südländische Genusstrinken zum Essen aufeinander: In Österreich machen wir beides.“ Etwa 900.000 Menschen sind stark suchtgefährdet, rund 340.000 bereits in der Abhängigkeit. Ein enorm hoher Wert, übertroffen nur von den 700.000 Nikotinsüchtigen im Land. Musalek: „Das ist auch kein Zufall, denn 90 Prozent der Alkoholkranken sind gleichzeitig von Zigaretten abhängig.“

Ende des „lustigen Trinkers“

Der „gelernte Österreicher“ hat seit jeher einen starken Hang zum guten Tröpferl, doch das Profil des Alkoholikers hat sich stark gewandelt. Lag das Durchschnittsalter der alkoholkranken Patienten im Anton Proksch Institut früher bei 40 bis 45 Jahren, so sind es heute um rund zehn Jahre weniger. Der Frauenanteil ist von 20 auf 33 Prozent gestiegen. Auch die Entwicklung der Sucht verläuft anders als viele glauben. „Wir müssen uns vom Bild des lustigen Alkoholabhängigen lösen, der launig durch die Gegend trinkt und irgendwann abhängig wird“, erklärt Musalek. „Hingegen erlebe ich sehr oft, dass jemand etwa aufgrund bestehender psychischer Probleme wie Depressionen oder Psychosen mehr Alkohol trinkt als der Durchschnitt und nach einem Schicksalsschlag dann den Kontrollverlust erlebt.“ Gefährdet sind vor allem auch jene, die genetisch bedingt von Natur aus viel vertragen und rasch hohe Dosen zu sich nehmen, weiß der Mediziner.

Vom Genuss in die Abhängigkeit   

Wann die Alarmglocken schrillen sollten, weil man den Pfad der Kontrolle in Richtung Sucht verlassen hat, sei laut Musalek schwer zu sagen. „Das hängt von individuellen Faktoren ab. Entscheidend ist letztlich, ob Alkohol bereits wie ein Medikament eingesetzt wird, um etwa eine stressbefreiende, eine beruhigende oder in Sachen Sexualität angenehm enthemmende Wirkung zu erzielen.“ Als gesundheitsgefährdend stuft die WHO bei Männern den Konsum ab 60 Gramm Alkohol pro Tag ein (entspricht etwa eineinhalb Liter Bier oder drei Viertel Wein). Bei Frauen gelten 40 Gramm (entspricht etwa zwei Krügerln Bier oder zwei Gläsern Wein) und mehr als gesundheitsgefährdend. Die Werte haben laut dem Suchtexperten jedoch wenig Aussagekraft. „Wichtiger ist, wie viele Rauscherlebnisse, aber auch alkoholfreie Tage man pro Monat aufweist.“ Auch körperliche Symptome wie feuchte, zitternde Hände, Herzrasen oder Hautveränderungen können Warnsignale einer Suchterkrankung sein. Generell rät Musalek allen dazu, sich vorbeugend Grenzen zu setzen. „Trinken Sie nie mehr als zwei, drei Gläser und vermeiden Sie vor allem, Alkohol alleine zu konsumieren.“ Man sollte sich stets fragen: Trinke ich noch wegen des Geschmacks oder um Probleme in der Arbeit oder Familie auszublenden?

Abstinenz nicht „allheilbringend“

Wurde früher erst eine fortgeschrittene Sucht behandelt, so gilt heute dank neuer Erkenntnisse schon ein etwa mit Burnout einhergehendes Alkoholproblem ohne Abhängigkeit als leichtgradige Sucht. „Im Zusammenhang mit solchen Fällen hat sich in der Medizin ein Paradigmenwechsel vollzogen“, betont Musalek. „Es wird früher diagnostiziert und behandelt, Abstinenz aber nicht mehr als einzig heilbringendes Therapieziel gesehen. Im Frühstadium kann es reichen, Patienten zu moderater Dosierung zu motivieren.“ Zusätzlich kommen zum Teil neue Medikamente zum Einsatz, vor allem Substanzen, die die Dopamin-Ausschüttung und damit den Wohlfühl-Kick hemmen. Trotz medikamentöser Unterstützung muss Musalek all jene enttäuschen, die bereits körperlich abhängig sind. „Bei ihnen bleibt die völlige Abstinenz leider das einzige Mittel zur freudvollen Lebensgestaltung.“

Behandlung von „Trendsüchten“

Hier liegt therapeutisch auch ein großer Unterschied zu den meisten Süchten, die nicht an eine Substanz gebunden sind. „Im Gegensatz zu Alkoholkranken können Arbeits-, Kauf- und Onlinesüchtige nicht auf Totalentzug gehen“, weiß Musalek. „Die Reduzierung der Dosis ist hier das oberste Ziel.“ Der Arzt warnt auch davor, das Wort Sucht vorschnell zu gebrauchen. „Es handelt sich dabei um eine schwere Störung, die eine komplexe Behandlung bedingt.“ Von den derzeit aufkeimenden „Trendsüchten“ macht den Mediziner vor allem die Onlinesucht nachdenklich. „Besorgniserregend ist die allgemeine Politik des Wegschauens und danach des Überdramatisierens. Beim Handy ist es wie mit dem Auto: Wir müssen erst lernen, damit umzugehen.“

Das Schöne verdrängt die Droge

Egal welche Droge: Gegen fast alle Süchte bietet man im Anton Proksch Institut vor allem die „Orpheus-Therapie“ an: Das Programm zielt darauf ab, dass das Suchtmittel im Leben des Abhängigen unwichtiger, ja sogar störend wird, indem neue, schöne Lebensinhalte in Form von Workshops und Kreativwerkstätten gefunden werden. „In der Praxis funktioniert das sehr gut“, freut sich Musalek. „Wir können damit die Patienten auch leichter zu einer regelmäßigen Behandlung ermuntern.“ Diese sei der Schlüssel zu der enorm hohen Heilungsprognose am Institut. Musalek: „80 Prozent jener, die in regelmäßiger Behandlung stehen, können danach symptomfrei leben.


Studien räumen mit Mythos auf:
Traubensaft statt Wein für Herzschutz

Seit Jahrzehnten hält er sich hartnäckig, der Mythos vom gesunden, täglichen Achterl Wein, das positive Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System haben soll. Mehrere neue, von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie vorgestellte Studien aus Dänemark, Israel und den USA zeigten jedoch einmal mehr keinerlei signifikanten Zusammenhang zwischen Alkohol und Herzschutz. „Es sollte jedem klar sein, dass ihn Alkohol selbst in kleinster Menge nicht gesünder macht“, mahnt der Psychiater Prim. Univ. Prof. Dr. Michael Musalek. Seine Empfehlung: „Besser, man trinkt Traubensaft oder nimmt die in manchen Weinen in geringen Spuren vorkommenden positiven Substanzen, etwa Polyphenole, in Tablettenform.“


Interview
Lorenz Gallmetzer: „Ich konnte mich selbst nicht mehr ausstehen“

Lange Zeit hatte der Alkohol ihn fest im Griff: Seinen Leidensweg als Alkoholkranker und die beschwerlichen Schritte aus der Sucht hat der Publizist, Reporter und ehemalige ORF-Korrespondent Lorenz Gallmetzer jetzt in seinem Buch „Süchtig“ beschrieben. MEDIZIN populär hat mit dem 64-Jährigen gesprochen.

MEDIZIN POPULÄR: Sie waren als bekannter TV-Journalist jahrelang alkoholsüchtig. Wie kam das?

Lorenz Gallmetzer: Ich habe von jeher eine melancholische Grundstimmung und war früh ein stressgeplagter Workaholic mit 75 Wochenstunden. Da war Alkohol ein willkommenes, sofort wirksames „Zaubermittel“ gegen alle Beschwerden, das blitzschnell Wärme im Körper verbreitet, die Gefäße öffnet und enspannt. Ich habe ihn konsumiert, um kreativ zu sein, in Feierstimmung zu kommen oder mich bei Problemen zu beruhigen.

Wann ist die Situation dramatisch geworden?

Als Spiegeltrinker und TV-Journalist habe ich 30 Jahre den Alkohol im Berufs- und Privatleben ganz gut gemanagt – eine aufregende Zeit, der ich heute nachweine. Doch vor 15 Jahren habe ich den Absprung verpasst: Zunächst der Tod meines Vaters und einer guten Freundin und letztlich meine eigene, inzwischen überstandene Krebserkrankung im Jahr 2009 ließen mich in eine Depression schlittern, die der Alkohol verstärkte. Ich war nur noch ein Wrack, es folgten der Absturz und totale Kontrollverlust.

Mit welchen Folgen?

Ich konnte Freunden und Kollegen gegenüber spitz und verletzend werden und hatte mich emotional nicht mehr im Griff. Ich war auch physisch stark angeschlagen und bin morgens häufig wie gerädert aus dem Bett geklettert. Es kostete mich alle Energie, jeden Tag so zu planen, dass das nächste Glas Wein gesichert war. Ich habe mich selbst nicht mehr ausstehen können. Nach vielen verschiedenen Therapieansätzen wurde erstmals 2015 bei meinem Aufenthalt im Anton Proksch Institut wirklich jede Minute des Tages auf das Bekämpfen der Sucht ausgerichtet. Das hatte ich noch nie erlebt. In vier Tagen war der körperliche Entzug vorbei, seit einem Jahr bin ich trocken. Auch die Mitpatienten dort haben mir sehr geholfen, ihre Schicksale schildere ich meinem Buch.

Träumen Sie noch manchmal vom einen oder anderen Achterl?  

Es gibt immer wieder Situationen, wo mich die alten Muster einholen. Zuletzt war ich nach einem Arbeitsmarathon reif für einen Schluck. Hätte es einen Tropfen Alkohol in der Wohnung gegeben, ich hätte ihn getrunken. Ich kann nicht sagen, wie lange ich durchhalte, aber ich sehe mich auf einem guten Weg. Angst habe ich nur vor Schicksalsschlägen: Was wird sein, wenn meine 91-jährige Mama stirbt?


Foto: iStock, cagkansayin

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