Ohr aus dem OP

Oktober 2014 | Medizin & Trends

Wunderwerk der Chirurgie
 
Oft ist ein Unfall die Ursache, manchmal auch ein Hundebiss, und öfter als man denkt kommen Betroffene bereits damit auf die Welt: In den meisten Fällen leidet unter einer fehlgebildeten bzw. fehlenden Ohrmuschel nicht nur das Aussehen, auch die Hörfähigkeit und vor allem die Psyche können beeinträchtigt sein. Jetzt gibt es Hilfe vom Chirurgen: Das neue Wunderwerk der Medizin mutet beinahe schon biblisch an. Denn das Ohr aus dem OP wird aus einer Rippe geschnitzt.
 
Mag. Sabine Stehrer

An die Blicke hatte er sich „irgendwie gewöhnt“. Aber mit der ständigen Fragerei konnte er sich einfach nicht abfinden: Wie ist denn das passiert? War das ein Unfall? Sätze wie diese hat Alfred S. oft gehört, zu oft. Jetzt hat sich der Niederösterreicher entschlossen, etwas dagegen zu tun. Jetzt, mit seinen 62 Jahren, wird er sich korrigieren lassen, was jedem, der ihn sieht, unweigerlich ins Auge sticht: seine Ohren.
Alfred S. ist mit einer fehlgebildeten Ohrmuschel auf die Welt gekommen, einem Phänomen, das die Mediziner Dysplasie nennen. „Bei mir ist die Fehlbildung stark ausgeprägt“, beschreibt S. das Problem. „Bei mir sieht es so aus, als hätte ich auf der rechten Seite gar kein Ohr, weil keine Ohrmuschel vorhanden ist.“ Als er erfahren hat, dass Chirurgen neuerdings auch Ohrmuscheln rekonstruieren können, hat er nicht lange gezögert. Angst vor dem Eingriff habe er keine, im Gegenteil: „Ich freue mich schon jetzt auf das Ergebnis“, sagt er.
Der OP-Termin bei Univ. Prof. Dr. Jafar-Sasan Hamzavi von der Medizinischen Universitätsklinik in Wien ist schon festgelegt. „Dass sich jemand in fortgeschrittenem Alter zu diesem Schritt entschließt, kommt eher selten vor“, sagt Hamzavi, der sich u. a. auf Ohrchirurgie spezialisiert hat. „Meist werden Dysplasien im Kindesalter operiert, da die Eltern ihrem Kind die Schwierigkeiten ersparen wollen, die leider mit einer Ohrfehlbildung einhergehen.“ Schließlich können, wie Hamzavi aus Gesprächen mit seinen Patienten weiß, schon die ständigen Fragen rund um das auffällige Ohr äußerst belastend sein. „Dabei bleibt es aber nicht. Gerade in der Schule ist mit Hänseleien bis hin zu Beschimpfungen und sogar Ausgrenzungen zu rechnen, was für die psychische Gesundheit eines Heranwachsenden nicht gerade förderlich ist“, so Hamzavi.

Ursache unbekannt

Fehlbildungen des Ohrs bzw. der Ohrmuschel kommen gar nicht so selten vor; immerhin einem von 6000 Menschen werden sie in die Wiege gelegt. Die Ursache ist laut Experten Hamzavi unbekannt. „Vermutet wird aber, dass Gene eine Rolle spielen und Dysplasien vererbt werden“, berichtet Hamzavi aus der Forschung. Dafür würden vor allem regionale Häufungen sprechen: So sind die Fehlbildungen in Japan, Finnland und im nördlichen Polargebiet besonders stark verbreitet. Buben sind mehr als doppelt so häufig betroffen wie Mädchen. Beim Großteil (80 Prozent) treten die Fehlbildungen an einem Ohr, meist am rechten, auf, bei 20 Prozent zeigen sich Auffälligkeiten an beiden Ohren. Die Mediziner unterscheiden je nach Ausprägung vier Typen von Dysplasien (siehe „Fehlgebildete Ohren“, unten). Abstehende Ohren etwa erachten sie als leichte Form von Fehlbildung. „Bei mittelschweren und schweren Dysplasien sieht eine Ohrmuschel aus wie eine Erdnuss, oder es ist gar keine vorhanden wie bei Herrn S.“, erläutert der Facharzt.

Probleme beim Hören

Ist die Fehlbildung stärker ausgeprägt, leiden nicht nur Aussehen und Psyche, sondern auch die Hörfähigkeit unter der Laune der Natur: „Viele Betroffene haben Probleme beim Richtungshören. Das heißt, sie können oft nicht sofort wahrnehmen, woher ein Geräusch kommt“, weiß Hamzavi. Geht die Fehlbildung so weit, dass gar keine Ohrmuschel vorhanden ist, so fehlt mitunter auch der Gehörgang. „Das liegt daran, dass sich die Ohrmuschel, der Gehörgang und das Mittelohr aus einer Stammzelle entwickeln“, erklärt Hamzavi den Hintergrund. „Ist die Entwicklung der Ohrmuschel gestört, kann es dazu kommen, dass auch jene Teile des Ohrs wie das Mittelohr nicht ausgebildet werden, die das Hören ermöglichen.“ Somit können die Betroffenen auf diesem Ohr nur eingeschränkt über die Knochen hören.  

Rippenknorpel oder Kunststoff

Wie ein Wunder biblischen Ausmaßes mutet an, was dank der modernen Chirurgie möglich ist, um den Betroffenen zu helfen: Man kann heute auch mittelschwere und schwere Fehlbildungen korrigieren, „indem wir die fehlenden Teile der Ohrmuschel oder die gesamte Ohrmuschel rekonstruieren“, so Hamzavi. „In den meisten Fällen wird die Ohrmuschel aus körpereigenem Material nachgebaut“, beschreibt Hamzavi die Technik: „Dabei werden den Patienten aus den Rippen Knorpelstücke entnommen. Daraus wird nach einer Schablone ein Ohrmuschelgerüst geschnitzt, das zum Patienten passt.“ Das Gerüst werde dann unter der Haut am Kopf angebracht. Zwölf Wochen später folge der nächste Eingriff, bei dem das Ohrgerüst vom Kopf abgehoben werde, beschreibt der Chirurg den weiteren Ablauf. „Ungefähr vier Wochen später, also nach insgesamt etwa vier Monaten, ist meistens alles verheilt und herzeigbar“, sagt Hamzavi. Nur in manchen Fällen müsse die Ohrmuschel noch ein wenig nachkorrigiert werden.
Bei Kindern unter acht Jahren kann diese Knorpel-Technik nicht angewandt werden. „Ihr Brustumfang ist noch zu klein, um genug Rippenknorpelmaterial für das körpereigene Ohrgerüst entnehmen zu können“, nennt Hamzavi den Grund. Für sie kann ein Gerüst aus Kunststoff angefertigt werden. Dieses wird mit Haut überzogen und gleich außen am Kopf angebracht. „Allerdings ist bei den Ohren aus Kunststoffgerüst die Wahrscheinlichkeit größer, dass es Komplikationen gibt“, will Hamzavi den Nachteil dieser Methode nicht unerwähnt lassen.

Implantat für besseres Hören

Ob Kunststoff- oder Rippenknorpelgerüst: Die Operation, bei der die Ohrmuschel an den Kopf gesetzt wird, erfolgt unter Vollnarkose. Patienten wie Alfred S., die auf dem fehlgebildeten Ohr schlecht hören, kann durch einen weiteren Eingriff zu besserem Hören verholfen werden. „Das gelingt, indem wir ein Mittelohr-Implantat einsetzen“, erklärt Hamzavi. Haben es die Betroffenen nach der OP gelernt, mit dem Implantat umzugehen, so ist auch für sie das Wunder komplett. „Die Patienten leben nach dem Eingriff so richtig auf“, freut sich der HNO-Arzt über so manches Erfolgserlebnis.
Hamzavi operiert an der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung am Wiener AKH freilich nicht nur Betroffene, die mit fehlgebildeten Ohren geboren wurden. „Zu meinen Patienten zählen auch Menschen, deren Ohrmuscheln zum Beispiel bei einem Unfall verletzt oder abgerissen wurden“, sagt Hamzavi. Auch Hundebisse oder Übergriffe von Menschen sind nicht selten Ursachen dieser sogenannten erworbenen Fehlbildungen. Und bei weißem Hautkrebs (Basaliom), der sich häufig an der Sonne ausgesetzten Gesichtsbereichen wie den Ohren bildet, kann es nötig sein, dass die Muschel teilweise oder auch ganz entfernt werden muss. Auch dann kann ein neues Ohr aus dem OP ein großes Stück Lebensfreude zurückbringen.    

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Fehlgebildete Ohren: Was ist das?

TYP I: Abstehende Ohren, sehr große, sehr kleine Ohren.
TYP II: Ohrmuschel und -läppchen sind vorhanden, aber leicht deformiert, die Ohrmuschel hängt z. B. stark nach außen über (Tassenohr).
TYP III: Das Ohr besteht aus einem Erdnuss-ähnlichen Gebilde.
TYP IV: Ohr bzw. Ohrmuschel wurden überhaupt nicht ausgebildet, auch das Hörvermögen kann fehlen.

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Abstehende Ohren: Was kann man tun?

Sie werden zu den Dysplasien Typ I gezählt und sind die weitaus häufigsten angeborenen Ohrfehlbildungen: Mehr oder weniger abstehende Ohren. Diese sogenannten Segelohren können per OP korrigiert werden, die Ohren müssen dafür aber ausgewachsen sein.
Für das Anlegen der Ohren gibt es verschiedene chirurgische Methoden. So werden z. B. entweder die Ohrknorpel mit dem Skalpell verkleinert, oder sie werden mit Hilfe von Fäden so geformt, dass der Abstand zwischen Kopf und Ohren kleiner wird.

Stand 09/2014

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