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Süchtig nach Medikamenten

Wenn es ohne Pulverln nicht mehr geht
 
Was mit dem täglichen Pulverl zum Einschlafen anfängt, kann in einer Medikamentensucht enden. Rund 150.000 Menschen sind hierzulande abhängig von Beruhigungsmitteln, Schlafmitteln und Schmerzmitteln. Etwa 1600 sterben jedes Jahr an den Folgen des Leidens. Lesen Sie, wo die Sucht beginnt und wie man sich von ihr befreien kann.
 
Von Mag. Sabine Stehrer

Nach zehn Jahren war ihre Ehe am Ende, im Job wurde ihr immer mehr Arbeit aufgehalst, und die Tochter brachte seit einiger Zeit fast nur noch schlechte Noten aus der Schule nach Hause. Ein Bündel an Belastungen, das sie zunehmend nervös machte. Sie besorgte sich Beruhigungsmittel. Erst schluckte sie eine Tablette, wenn sie sich zu sehr aufregte. Dann schluckte sie jeden Morgen eine, damit sie sich gar nicht erst aufregte.  Und schließlich nahm sie abends noch eine, um besser einschlafen zu können. Drei Monate später lag ihre Tagesdosis bei fünf, nach einem Jahr bei zehn Tabletten. Sonja W., 45, war süchtig nach Tranquilizern geworden.

Hohes Suchtpotenzial

So oder so ähnlich wie Sonja W. schlittern viele Menschen in eine Medikamentensucht, sagt Prim. Univ. Prof. Dr. Reinhard Haller, Leiter und Chefarzt der Krankenhausstiftung Maria Ebene für Suchtkranke in Frastanz in Vorarlberg. Bei anderen beginnt die Krankheit mit Schlafstörungen, die oft auf unerkannte Depressionen zurückgehen, und dem Griff zu hochwirksamen Schlafmitteln, die süchtigmachende Benzodiazepine enthalten. Wieder andere haben chronische Schmerzen und behelfen sich mit starken Mitteln, in denen Morphin steckt, das ebenfalls ein hohes Suchtpotenzial hat. Haller schätzt, dass hierzulande etwa 150.000 Menschen süchtig nach Medikamenten wie den genannten sind, 1600 Menschen sterben pro Jahr an den Folgen des Leidens, von dem überwiegend Frauen betroffen sind. Haller: „Wir wissen, dass zwei- bis dreimal so viele Frauen wie Männer süchtig nach Medikamenten sind.“ Der Experte kennt auch den Hauptgrund dafür: „Für Frauen ist es anders als für Männer wichtig, dass ihre Sucht nicht bemerkt wird, und die Medikamentensucht lässt sich anders als z. B. die Alkoholsucht gut verstecken.“

Ein Jahr bis zur Abhängigkeit

Wo beginnt die Sucht? „Die tägliche Tablette zur Beruhigung oder zum Einschlafen ebnet den Weg“, sagt Experte Haller. Nach drei Monaten hat man sich an das Mittel gewöhnt, und das Risiko, dauerhaft abhängig zu werden, ist bereits groß. Haller: „Nach einem Jahr der Einnahme ist man so wie Frau W. abhängig bzw. süchtig.“ Die Sucht zeigt sich – bei Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmitteln gleichermaßen – vorwiegend auf psychischer Ebene. „Die Betroffenen nehmen das Medikament längst nicht mehr wie anfangs nur dann ein, wenn sie tatsächlich nervös sind, nicht schlafen können oder Schmerzen haben“, so Haller, „sondern sie schlucken die Mittel zusätzlich vorbeugend und steigern meist nach und nach die Dosis“.
Weitere Kennzeichen einer bestehenden Medikamentensucht: Die Süchtigen achten darauf, dass sie immer genug von „ihrem“ Medikament zu Hause haben und legen einen Vorrat an. Um sicherzugehen,  dass er ihnen nie ausgeht, lassen sie sich etwa von mehreren Ärzten Rezepte ausstellen, die sie in verschiedenen Apotheken einlösen. Oder sie bedienen sich am Schwarzmarkt, den es im Internet und auch auf der Straße gibt.
Abgesehen von diesen Merkmalen ist die Sucht ab einem Jahr der Einnahme auch an Entzugserscheinungen erkennbar, die selbst dann auftreten, wenn die Dosis nicht verringert wird, da das morphin- oder benzodiazepinhältige Mittel aufgrund des Gewöhnungseffekts an Wirkung verliert. Die Entzugserscheinungen äußern sich, so Haller, ebenfalls vorwiegend psychisch: in Angstzuständen, depressiven Verstimmungen und dadurch bedingten Schlafstörungen. Ein wenig reagiert zudem der Körper: „Mit einem Zittern und vermehrtem Schwitzen, was beides ebenfalls Schlafstörungen nach sich ziehen kann“, sagt Haller. Um diese Beschwerden loszuwerden, nehmen die meisten Süchtigen noch mehr Tabletten – und sorgen so dafür, dass sich die Suchtspirale immer weiter in Richtung einer immer stärkeren Abhängigkeit dreht.

Entzug durch Ersatz

Nicht so Sonja W. Als die 45-Jährige während eines Urlaubs einmal nicht so viele Beruhigungsmittel wie üblich nahm und daraufhin andauernd zitterte, wollte sie ganz von dem Medikament loskommen. Also suchte sie ärztliche Hilfe. „Diese besteht zunächst in einem ausführlichen Gespräch, das dazu dient, die Ursache und das Ausmaß der Sucht zu erkennen“, sagt Haller. Anschließend wird eine Harnuntersuchung gemacht, um zu sehen, wie hoch der Gehalt an Giftstoffen im Körper ist. Dem entsprechend werden die süchtigmachenden Mittel nach einem maßgeschneidertem Plan langsam und überlappend durch Mittel ersetzt, die nicht süchtig machen.“ So bleiben die Betroffenen weitgehend von jenen Schmerzen, Schlafstörungen, Unruhezuständen und Beschwerden verschont, die mit dem Entzug einhergehen, und die sie ursprünglich in den Suchtmittelmissbrauch trieben. Zusätzlich zu den neuen Medikamenten kann eine Psychotherapie dabei helfen, der Sucht zu entkommen. Ist der Entzug abgeschlossen, dauert es vier Wochen, bis der Körper die Giftstoffe abgebaut hat und die körperlichen Entzugserscheinungen aufhören. Zwei bis drei Monate vergehen, ehe sich der psychische Zustand der Medikamentensüchtigen normalisiert.
Würden die Pulverln, Tabletten & Co von einem Tag auf den anderen weggelassen, könnten die genannten Beschwerden viel stärker ausfallen. Deswegen rät Haller von dieser Methode des sogenannten kalten Entzugs dringend ab. Außerdem empfiehlt der Experte, auch den langsamen, sogenannten warmen Entzug nicht im Alleingang zu absolvieren, sondern sich von einem Arzt helfen zu lassen. „Das ist oft sogar ohne Aufenthalt in einem Krankenhaus möglich und wird ambulant gemacht“, sagt er. Gegebenenfalls ist auch nach dem Entzug Hilfe nötig, etwa in Form einer Psychotherapie, die dazu dient, Rückfällen zu entgehen. Zu letzteren tendieren, so Haller, „Medikamentensüchtige leider genauso häufig wie andere Süchtige auch“. Etwa ein Viertel der clean gewordenen Betroffenen verfällt irgendwann im Leben wieder den ihnen bekannten Suchtmitteln.

Weiße Sucht

Nach der Farbe der meisten Mittel wird die Medikamentensucht auch „weiße Sucht“ genannt – oder „stille Sucht“, weil die Süchtigen anders als etwa Alkoholkranke, Kauf- oder Sexsüchtige nicht durch ihr Verhalten auffällig werden. So wird die Sucht vom Umfeld der Betroffenen meistens nicht bemerkt, und die Süchtigen selbst gestehen sich oft nicht ein, suchtkrank zu sein. Deswegen vergeht häufig viel Zeit, ehe etwas gegen das Leiden unternommen wird, und bei langfristig über Jahre bestehender Medikamentensucht kommt es auch zu körperlichen Schäden. Haller: „Jahrelanger Medikamentenmissbrauch kann zu Schädigungen der Leber und der Nieren führen, auch zu krankhaften Veränderungen des Blutbilds und zu Nervenfunktionsstörungen.“ Werden Schlaf- oder Schmerzmittel irgendwann überdosiert – ob versehentlich oder absichtlich – oder zusammen mit anderen Medikamenten oder anderen Suchtmitteln wie z. B. Alkohol eingenommen, dann kann es, so Haller, „aufgrund dessen zum Tod durch Ersticken, durch ein Organversagen, oder auch durch einen Schlaganfall kommen“. Nach den Statistiken sterben in Österreich jedes Jahr rund 1600 Menschen in Folge einer Medikamentensucht.
Bleibt nur die Frage, warum die beschriebenen Medikamente, nach denen so viele Österreicher süchtig sind, überhaupt gegeben werden. Haller: „Bei starken Schmerzen, schweren Schlafstörungen oder stark belastenden Unruhezuständen wirken sie gut und sollten deswegen auch gegeben bzw. genommen werden, das allerdings keinesfalls länger als vier Wochen.“ Auch schon nach dieser Zeit empfiehlt es sich, die Medikamente mit Benzodiazepinen und Morphin in Absprache mit dem behandelnden Arzt langsam zu reduzieren und – wenn die Beschwerden dann wiederkehren – durch andere Mittel ohne Suchtpotenzial zu ersetzen.

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Eine Sucht kommt selten allein

Insbesondere Männer handeln sich oft zusätzlich zur Medikamentensucht noch ein weiteres Problem ein, weiß Prim. Univ. Prof. Dr. Reinhard Haller. „Sie nehmen neben den Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmitteln oft noch viel Alkohol zu sich.“ Jugendliche greifen zusätzlich zu Medikamenten und Alkohol oft auch noch zu Kokain und Heroin.

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Mittel, die süchtig machen können

Abgesehen von Beruhigungsmitteln, Schlafmitteln und Schmerzmitteln können auch Antidepressiva, Appetitzügler, Parkinson-Mittel, Analgetika (Mittel gegen rheumatische Schmerzen), Migränemedikamente, Hustensäfte und Entwässerungsmittel suchterzeugende Zusatzstoffe enthalten.

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