Wie sich Belastung, Hektik und Ärger „auf den Bauch schlagen“ und wie man Magen und Darm wieder ins Lot bringt.
von Mag. Wolfgang Bauer
So manche Redewendung bringt es treffend auf den Punkt. Wenn einem etwas „schwer im Magen liegt“ oder „den Appetit verdirbt“, oder wenn man sich so ärgert, dass einem die „Galle hochgeht“, dann deuten diese Redewendungen an, dass es einen Zusammenhang von Emotionen und Belastungen mit dem Verdauungssystem gibt. Seit jeher scheint der Volksmund zumindest zu ahnen, dass sich das, was uns ärgert oder stresst, auch „auf den Bauch schlagen“ kann. „Stressbelastungen können die Verdauung ordentlich durcheinanderbringen.
Die Palette der Beschwerden reicht von Verstopfung und Durchfall über Blähungen, Völlegefühl und saures Aufstoßen bis hin zum Reizdarmsyndrom oder zur Gastritis“, sagt Dr. Gabriele Holfeld-Weitlof, Ärztin für Allgemein- und Ernährungsmedizin in Salzburg.
Zu hastiges Essen schadet
Die Ärztin ist auch Expertin für Psychosomatische Medizin und beobachtet, dass bereits die Nahrungsaufnahme so manche Gefahr für die Verdauung birgt.
Gestresste Menschen essen häufig zu hastig, kauen die Nahrung zu wenig, verschlingen sie. „Sie widmen der Nahrungsaufnahme kaum die nötige Zeit und Aufmerksamkeit. Sie bedienen beim Essen nebenbei ihr Smartphone, springen vom Tisch auf, um irgendetwas anderes zu erledigen“, erklärt Holfeld-Weitlof.
Mögliche Folge der Nahrungsaufnahme unter Stressbedingungen: Die Passage der Nahrung durch Magen, Zwölffingerdarm und Dünndarm geht zu schnell vor sich.
Vieles bleibt unverdaut, gelangt so in den Dickdarm und bildet dort einen guten Nährboden für Fäulnis- und Gärungskeime. Sind diese Bakterien aber allzu stark im Darm vertreten, dann drohen gesundheitliche Probleme, etwa unklare Bauchbeschwerden, Übelkeit, Durchfall oder eine starke Gasbildung im Darm.
Stress hemmt die Verdauung
Auch das Gegenteil kann eintreten, sagt Gabriele Holfeld-Weitlof: „Stress kann den Verdauungsapparat ,lähmen‘ und die Prozesse auch verlangsamen.“
Unter Stress gerät nämlich der gesamte Organismus in Alarmbereitschaft, die Muskulatur wird angespannt, die Atemfrequenz erhöht. Blutdruck und Pulsfrequenz steigen, um für das uralte Reaktionsmuster „Kampf oder Flucht“ bereit zu sein. Die Verdauungsprozesse werden dabei reduziert, im Alarmzustand sind sie nicht wichtig genug. Was wiederum zur Folge hat, dass Teile der Nahrung unverdaut bleiben.
Stress und Darmflora
Billionen von Bakterien besiedeln unseren Organismus. Sie befinden sich vor allem im Verdauungstrakt, die allermeisten im Dickdarm. Tausende unterschiedliche Bakterienarten bilden zusammen mit Pilzen und anderen Keimen die sogenannte Darmflora, auch Mikrobiom genannt. Das ist ein hoch komplexer Lebensraum, in dem alle Darmbewohner spezielle Aufgaben haben.
So leben bestimmte Bakterienarten auf der Schleimhaut des Darms und schützen ihre Oberfläche. Das ist wichtig, damit die Darmwand nicht durchlässig wird und keine Gifte oder Fremdeiweiße in den Kreislauf gelangen können, sondern ausgeschieden werden. Andere Bakterien verarbeiten den Nahrungsbrei, filtern die wichtigen Nährstoffe heraus, entfernen die Schadstoffe, erledigen also die eigentliche Verdauungsarbeit. Wiederum andere befreien den Darm bzw. die Darmzotten von den faulenden und gärenden Resten.
Und selbst die Bakterien mit weniger günstigen oder gar krankmachenden Eigenschaften haben ihren Sinn. Sie fordern das Immunsystem ständig heraus, sind sozusagen Trainingspartner der Abwehrkraft. Wichtig ist, dass die Problemkeime nicht überhandnehmen, dass Bakterien mit überwiegend nützlichen Eigenschaften – wie Lactobazillen oder Bifidobakterien – ausreichend vorhanden sind.
Was wir mit unserem Lebensstil beeinflussen können. Ist dieser ungesund, „freuen“ sich die Problemkeime: Hastiges Essen sorgt dafür, dass Kohlenhydrate schlecht verdaut werden, es kann zu Gärungsphänomenen kommen. Dann sorgen bestimmte Bakterien für Unruhe im Verdauungstrakt, Durchfall oder quälende Gasbildung können die Folge sein.
Werden hingegen Eiweiße schlecht verdaut, droht allzu starke Fäulnis im Darm. In diesem Milieu fühlen sich Problemkeime wie die Clostridien wohl. Sie können aggressive Stoffwechselprodukte bilden, die die Darmschleimhaut für Gifte und Keime durchlässig machen.
Das Hirn im Bauch
Doch damit nicht genug. Ist das Mikrobiom einmal durcheinandergeraten und die Verdauung aus dem Lot, so hat dies nicht nur Auswirkungen auf den Bauchraum, sondern auf den gesamten Organismus. Verantwortlich dafür ist das sogenannte enterale Nervensystem – auch Bauchhirn genannt. „Das ist ein komplexes Nervengeflecht, das fast den gesamten Magen-Darm-Trakt durchzieht und eine enge Verbindung zum Gehirn pflegt“, sagt Gabriele Holfeld-Weitlof. Wobei mehr Signale vom Darm in Richtung Gehirn ausgehen als umgekehrt. Über diese Darm-Hirn-Achse beeinflusst der Darm auch unsere Stimmung. Denn etwa 90 Prozent des „Glückshormons“ Serotonin werden im Darm gebildet. Ein zu niedriger Serotoninspiegel ist mitverantwortlich für depressive Verstimmung.
Auch die Abwehrkräfte haben mit dem Darm zu tun. So zum Beispiel wird das Immunglobulin A, ein Eiweißmolekül, das Krankheitserreger bekämpft, in erster Linie im Darm gebildet. Es macht also in mehrfacher Hinsicht Sinn, der Verdauung Gutes zu tun und unnötigen Stress fernzuhalten.
Wichtige Diagnose
Wie aber kann man diese Zusammenhänge entdecken? „In vielen Fällen genügt bereits ein ausführliches Gespräch mit dem Betroffenen“, so Gabriele Holfeld-Weitlof. Manchmal sind Stress-Tests hilfreich, um herauszufinden, ob Belastungen vorliegen.
Mithilfe von Speichel- und Bluttests kann man das Stresshormon Cortisol ermitteln, ein wichtiger Indikator für das Vorliegen von Belastungen. Eine spezielle Stuhlprobe gibt Auskunft darüber, welche Bakterien im Darm dominieren, welche zu wenig vorhanden sind. Diese Proben werden von spezialisierten Laboren ausgewertet. „Ob Nahrungsmittelintoleranzen, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen oder eine Gastritis die Verdauungsprobleme verursachen, lässt sich mit einer Gastroskopie oder Koloskopie feststellen“, so Holfeld-Weitlof.
****
Allgemeine Anti-Stress-Therapie
Wenn Stress die Hauptursache der Verdauungsprobleme darstellt, empfiehlt die Ärztin unter anderem …
… Belastungen mit Hilfe von Entspannungsmethoden wie dem Autogenen Training oder der Progressiven Muskelentspannung nach Jacobson zu reduzieren.
… regelmäßige Bewegung für einen gesunden Ausgleich zu machen – es sollten mindestens 10.000 Schritte am Tag sein.
… auf die Schlafhygiene zu achten (wie z. B. kühles Schlafzimmer, kein schweres Essen am Abend). Guter Schlaf erhöht die Stressresistenz.
… auf beruhigende Heilpflanzen wie Passionsblume oder Baldrian zurückzugreifen. Pfefferminze, Fenchel, Anis und Kümmel helfen bei krampfartigen Schmerzen. Bei Völlegefühl und Blähungen können Kräuter mit vielen Bitterstoffen wie Löwenzahn und Salbei Linderung bringen.
****
Anti-Stress-Therapie für den Darm
Wie und was wir essen, schlägt sich in Wohlbefinden oder spürbaren Beschwerden nieder:
- Mahlzeiten möglichst stressfrei gestalten. Das heißt: sich Zeit zum Essen nehmen, keine Ablenkung durch Handy oder Fernsehen, langsam und achtsam essen, gut kauen, ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen (aber wenig Kaffee und Alkohol), auf Nikotin verzichten.
- Möglichst wenig Süßes essen: Süßigkeiten führen zu Blähungen, da die Darmbakterien mehr Darmgas produzieren.
- Auch für den Gang zur Toilette die nötige Zeit einräumen. Wer unter Stress beim Stuhlgang presst, kann dadurch das Heraustreten von Hämorrhoiden fördern, die sich im Anfangsstadium einer Erkrankung nach dem Stuhlgang zwar wieder nach innen zurückziehen. Es kommt aber zu Beschwerden wie wiederkehrenden Blutungen, Brennen, Jucken oder Nässen im Analbereich.
- Nahrungsergänzungsmittel bzw. Probiotika mit speziellen Bakterienstämmen zuführen, falls die Auswertung einer Stuhlprobe ergibt, dass im Darm ein bakterielles Ungleichgewicht vorliegt.
- Je nach Ergebnis der Stuhlprobe: Umstellung der Ernährung, z.B. weniger Kohlenhydrate, mehr Ballaststoffe.
- Spezielle Methoden aus dem Bereich der Psychotherapie – wie etwa die Bauchhypnose –, um den Körper zu entspannen und die Verdauung zu regulieren. Nur unter fachkundiger Anleitung!
„Wichtig ist, dass Patienten mit Hilfe von Ärzten und Therapeuten einmal spüren, dass sie belastet sind, und auch wahrnehmen, wo genau die Probleme liegen. Dann beginnt eine spannende Reise hin zu einem entspannten und gesünderen Lebensstil“, fasst es Gabriele Holfeld-Weitlof zusammen.
****
Dem Darm Zeit geben
Hektik und Stress können zu einer Verstopfung führen. Assoc. Prof. Priv. Doz. Dr. Stefan Riss, Oberarzt an der Universitätsklinik für Chirurgie in Wien und Spezialist für Darmchirurgie, erklärt, wie man Abhilfe schaffen kann.
MEDIZIN POPULÄR: Wie können Stress und Verstopfung zusammenhängen?
Stefan Riss: Wer zum Beispiel einen stressigen Beruf hat, steht sozusagen den ganzen Arbeitstag unter Strom, erledigt eine Aufgabe nach der anderen, gönnt sich kaum Pausen. Auch nicht für den Gang zur Toilette, dadurch wird der natürliche Drang zur Darmentleerung unterdrückt. Da der Darm sehr lernfähig ist, gewöhnt er sich allmählich daran. Auch für ausreichend Flüssigkeitszufuhr oder eine ballaststoffreiche Ernährung nimmt man sich nicht ausreichend Zeit. Und in der knappen Freizeit verzichtet man gerne auf die nötige körperliche Bewegung. All das sind Faktoren, die eine Verstopfung begünstigen.
Kann man den Darm auch wieder an eine normale Verdauungstätigkeit gewöhnen?
Ja, indem man zum Beispiel auf den Stuhldrang reagiert und sich ausreichend Zeit für den Toilettengang nimmt. Dort hat Stress nichts zu suchen, auf der Toilette ist Entspannung angesagt und kein hastiges Pressen. Nur so kann die Muskulatur des Beckenbodens und des Darmausgangs, die angespannt ist, um den Stuhldrang zu unterbinden, wieder loslassen. Außerdem kann es sich lohnen, auf der Toilette eine gewisse Sitzhaltung einzunehmen. Indem man etwa die Füße auf einen Schemel stellt, so dass der Winkel zwischen den Oberschenkeln und dem Oberkörper kleiner wird. Das erleichtert die Entleerung des Darmes, wie Untersuchungen gezeigt haben.
Umgekehrt kann auch der Darm dem Menschen Stress bereiten.
Ich denke dabei vor allem an das Problem des unfreiwilligen Stuhlverlustes, in der Fachsprache Stuhlinkontinenz genannt. Das heißt für die Betroffenen, dass Stuhl zur falschen Zeit und am falschen Ort verloren geht. Und zwar unkontrolliert, es ist nicht möglich, ihn bis zur nächsten Toilette zurückzuhalten.
Diese Form der Inkontinenz ist den Betroffenen äußerst unangenehm, bereitet ihnen Stress, bedeutet häufig sozialen Rückzug und Isolation. Es dauert oft Jahre, bis sie sich einem Arzt anvertrauen.
Dabei gäbe es wirksame Hilfen …
Ja, und zwar für all die genannten Probleme. Ob es sich um Entspannungstechniken handelt, um generell den Stress in den Griff zu bekommen, ob es sich um eine Umstellung auf eine ballaststoffreichere Ernährung handelt, damit die träge Verdauung angekurbelt wird, um Beckenbodentraining, das den Stuhl effektiv zurückhält, um Medikamente, die den Stuhl eindicken bis hin zu operativen Eingriffen, wie zum Beispiel dem Einsetzen eines Darmschrittmachers.
Foto: iStock, wildpixel