„Die Nachricht, ein Mann zu sein, hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen“
– Von Mag. Sabine Stehrer
MEDIZIN populär: Herr Schinegger, Sie haben etwas erlebt, was unvorstellbar ist: Eine Kindheit und Jugend als Mädchen und junge Frau, die mit 19 Jahren erfährt, dass sie ein Mann ist. Was hat diese Nachricht bei Ihnen, noch als Erika, ausgelöst?
Erik Schinegger: Die Nachricht hat mir zuerst den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich habe einen Nervenzusammenbruch erlitten und war mehrere Wochen lang im Spital. Ich habe auch Selbstmordgedanken gehabt. Erst nach und nach ist ein Gefühl der Erleichterung, fast der Erlösung aufgetreten – als ich bemerkt habe, dass ich nun endlich eine Erklärung für verschiedene Dinge habe, die mir schon länger komisch vorgekommen waren.
Welche?
Als Mädchen Erika war ich ein fröhliches Kind, aber ab der Pubertät war ich traurig und wurde immer trauriger. Ich fand mich ,schiach’, und ich habe mich für meinen Körper geschämt. Anders als die anderen Mädchen hatte ich keine Menstruation und keinen Busen, was auf das harte Training geschoben wurde. Und wenn meine Freundinnen am Wochenende heimgefahren sind und sich schon auf das Treffen mit ihren Freunden gefreut haben, habe ich mich da nie gesehen. Mir hat vor Burschen gegraust.
Ich habe mir stattdessen gedacht, eine Frau ist etwas Schönes und habe immer den Wunsch in mir gespürt, eine Frau zu umarmen. Ich habe befürchtet, lesbisch zu sein. So unglücklich ich also im Privatgewand war, so glücklich war ich aber im Skigewand. Ich habe nur für den Sport gelebt. Und nachdem ich Weltmeisterin geworden war, war ich als Skirennläuferin sowieso der King… eigentlich die Queen.
Nur mussten Sie nach den Tests, die ergaben, dass Sie ein Mann sind, die Karriere im Skirennsport aufgeben, durften nicht mehr als Erika Schinegger in die damals bevorstehende nächste Saison starten.
Das war ganz schlimm für mich und hat auch dazu beigetragen, dass ich im Spätherbst 1967 am Tiefpunkt meines Lebens war, sicher meine ärgste seelische Krise durchmachte. Den Skirennsport habe ich ja geliebt, und er war auch mein Beruf, mit dem ich Geld verdient und Österreich zu Ruhm verholfen habe. Um wieder im Frauenteam starten zu können, hat mir der Österreichische Skiverband nach den Untersuchungen im Landeskrankenhaus Innsbruck, denen ich unterzogen wurde, auch nahegelegt, mich zur Frau umoperieren zu lassen.
Haben Sie daran gedacht?
Nein, ich hatte das große Glück, in die Hände eines guten Arztes geraten zu sein, der mich davor bewahrt hat. Er hat mir erklärt, dass ich als Mann auf die Welt gekommen bin und alle männlichen Geschlechtsteile bei mir vorhanden sind. Sie waren nur in den Bauchraum gewachsen. Ein Hoden hat zum Teil herausgeschaut, den hat man bei der Geburt für Schamlippen gehalten und wohl daher geglaubt, dass ich ein Mädchen bin.
Ärgern Sie sich über den Irrtum?
Ich wünschte, man hätte gleich bei der Geburt erkannt, dass ich ein Bub bin und mich auch gleich durch eine Operation richtiggestellt. Da wäre ich vielleicht im Skirennsport nicht bis dahin gekommen, wo ich war. Aber mir wäre viel Leid erspart geblieben, und ich hätte nicht erst mit 19 lernen müssen, ein Mann zu sein, sich wie ein Mann zu verhalten. Das war irrsinnig schwierig. Deswegen habe ich mir, als ich dann nach mehreren Eingriffen und einigen Monaten endgültig ein richtiger Mann, der Erik, war, und wieder Licht am Ende des Tunnels gesehen habe, einen Porsche gekauft. Der hat mir Kraft gegeben, war meine Stütze. Damit bin ich in mein zweites Leben gestartet, und bald habe ich es genossen, ein Mann zu sein, Freundinnen haben zu können, auch der Macho zu sein, der ich viele Jahre lang war.
Wie hat Ihr Umfeld reagiert, als statt Erika auf einmal der Erik vor ihm stand?
Unterschiedlich. Meine Familie war voller Verständnis. Aber ich habe gemerkt, dass viele nicht mit der Veränderung umgehen konnten, sich daher von mir abgewendet haben, sogar Nachbarn, Bekannte und Freunde. Es gab auch den Gedanken daran, alles hinter mir zu lassen und als Skilehrer in die USA auszuwandern, wo keiner meine Geschichte kennt, mir dort ein neues Leben aufzubauen. Aber ich habe mich dazu entschlossen, mich nicht zu verstecken und mein Leben dort, wo ich sein wollte, zu leben, daheim in St. Urban in Kärnten. Trotz oder gerade wegen der Schwierigkeiten, die ich dann hatte, ist mein Kampfgeist erwacht und ich habe mir so wie davor im Sport Ziele gesetzt und mich darum bemüht, diese zu erreichen. Ich war dann auch recht erfolgreich, war als Unternehmer gut im Geschäft, mit meiner Disco, meiner Skischule mit Kinderskischule und als Pächter von Strandbädern am Urbansee und am Wörthersee.
Sie haben ja auch geheiratet und sind Vater geworden.
Was das Vatersein anbelangt, hat es der liebe Gott sehr gut mit mir gemeint, denn meine Tochter war mir von Anfang an wie aus dem Gesicht geschnitten. Wäre das nicht so gewesen, hätte jeder daran gezweifelt, dass ich der Vater bin. Nun habe ich schon drei Enkel, die mir auch ähnlich sehen. Und ich bin zum zweiten Mal verheiratet.
Auch einmal als Frau gelebt zu haben, war das nicht auch von Vorteil für Sie, zum Beispiel in Beziehungen?
Ich glaube schon, vor allem aber im Umgang mit Kindern. Ich habe aber sehr lang gebraucht, bis ich zu der Erika in mir stehen konnte, als die ich aufgewachsen bin und zu der ich erzogen wurde. Und eigentlich sehe ich es erst jetzt, mit 70, als Privileg, ein Leben als Erika gehabt zu haben und ein zweites als Erik leben zu dürfen.
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Bub oder Mädchen?
Könnte heute noch passieren, was 1948 bei der Geburt von Erik Schinegger geschah? Dass ein Bub für ein Mädchen gehalten wird?
Von Mag. Sabine Stehrer
Einer der führenden Experten auf diesem Gebiet, Assoz. Prof. Dr. Alexander Springer von der Spezialambulanz für Kinderurologie am AKH in Wien, meint, ob das heute noch passieren könnte, sei schwer zu beurteilen, denn solche Fälle kämen „äußerst selten“ vor.
Nur bei 50 bis 100 der rund 88.000 Babys, die hierzulande jedes Jahr auf die Welt kommen, sei das Geschlecht nicht eindeutig bestimmbar. Und bei den weitaus meisten davon, 95 Prozent, handle es sich um Mädchen, die zwar zwei X-Chromosomen haben, genetisch also eindeutig weiblich sind, deren äußeres Geschlecht aber vermännlicht ist: Die Klitoris schaut aus wie ein Penis, die großen Schamlippen wie ein Hodensack. Im Extremfall werden diese Mädchen nach der Geburt für Buben gehalten. Diese Erkrankung und auch die sehr seltene Variante der Geschlechtsentwicklung, bei der genetische Buben nach der Geburt für Mädchen gehalten werden wie Schinegger wird oft durch die Gene verursacht und kann weiter vererbt werden, weiß Springer. So gebe es in manchen Familien mit den betroffenen Babys bereits jemanden, bei dem das Geschlecht ebenfalls nicht von Anfang an zugeordnet werden konnte. Sind die Eltern noch dazu miteinander verwandt, so wie Schineggers Eltern, die Cousin und Cousine waren, ist das Risiko für die Vererbung des Gens und das Wiederauftreten der Krankheit in der Familie besonders groß.
„Eltern reagieren unterschiedlich“
Erfahren die Eltern, dass ihr Baby nicht eindeutig Mädchen oder Bub ist, reagieren sie „sehr unterschiedlich“, erklärt Springer und ergänzt: „Für Väter und Mütter mit einem ähnlichen Fall in der Familie ist das unbestimmbare Geschlecht oft gar kein so großes Problem, für andere schon.“ So oder so wird Eltern und später den betroffenen Kindern psychologische Hilfe angeboten – um die Schwierigkeiten, die sich zwangsläufig für sie ergeben, etwa im Kindergarten oder in der Schule, besser bewältigen zu können. Was sonstige Maßnahmen wie Hormonbehandlungen oder Operationen anbelangt, ist man heute zurückhaltend. „Aufgrund früher gemachter Erfahrungen, wo oft schnell umoperiert und hormonell behandelt wurde, sich das Kind dann aber später wie im falschen Körper vorkam, wird darauf gewartet, wie sich das Kind entwickelt, womit es spielt, wie es sich anzieht.“ Häufig stellt sich erst in der Pubertät heraus, welchem Geschlecht sich der oder die Jugendliche zugeordnet fühlt und was die junge Frau oder der junge Mann selber will.
Mann, Frau oder drittes Geschlecht?
Inter- und Transsexualität
- Intersexuelle Menschen können anatomisch, genetisch und hormonell nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden.
- Transsexuelle werden bei der Geburt eindeutig als Bub oder Mädchen bestimmt, fühlen sich aber als Angehörige des anderen Geschlechts.
- Für unklare Fälle gedacht ist das – noch neue – Recht auf den Eintrag eines dritten Geschlechts in das Personenstandsregister und Urkunden wie den Pass.
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